Ein aufgewühlter Selenskyj geht die EU-Regierungschefs frontal an - und fleht um mehr Munition

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Stefan Beutelsbacher,

Christoph B. Schiltz

Stand: 22.03.2024 08:55 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten

Beim EU-Gipfel wirkt es so, als lebten Selenskyj und die EU-Spitzen in verschiedenen Welten. Der Präsident der Ukraine zeigt sich aufgewühlt - und geht die europäischen Regierungschefs hart an. Der Vorschlag von verbindlichen Zusagen für Militärhilfen scheitert.

In Brüssel geht der EU-Gipfel weiter: Zum Auftakt signalisierten Bundeskanzler Olaf Scholz und andere der Ukraine, dass mit den Zinsen des eingefrorenen russischen Kapitals die Rüstungskäufe bezahlt werden könnten. Der ukrainische Präsident Selenskyj hingegen fordert mehr EU-Militärhilfe.
Quelle: WELT TV

Es war ein Drama, das sich am Donnerstagnachmittag beim EU-Gipfel in Brüssel abspielte. Wenige Stunden nach Beginn des Treffens wurde hinter verschlossenen Türen der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video aus Kiew dazugeschaltet. Dieses Mal hielt sich Selenskyj, anders als sonst, erst gar nicht lange mit freundlichen Worten und Dankesreden für die westliche Unterstützung für sein Land im Abwehrkampf gegen Russland auf. Der Präsident der Ukraine war aufgewühlt an diesem Nachmittag - und er ging die anwesenden 27 EU-Staats- und Regierungschefs frontal an. Selenskyj machte ihnen Vorwürfe. Und er flehte zugleich um mehr militärische Unterstützung für sein Land, insbesondere um Luftabwehrsysteme und um Munition.

"Leider ist der Einsatz von Artillerie an der Front durch unsere Soldaten beschämend für Europa in dem Sinne, dass Europa mehr leisten kann", sagte Selenskyj. "Es ist wichtig, dies jetzt zu beweisen." Wenn es genug Unterstützung für die Ukraine gebe, würde das auch abschrecken, sollte "dieser Wahnsinnige (Putin; Anm. d. Red.) die Ausweitung der Aggression auf andere europäische Länder befehlen", sagte Selenskyj. Tatsächlich gibt es Befürchtungen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Sieg über die Ukraine auch Nato-Mitglieder wie Estland oder Litauen angreifen könnte.

Und wie reagierten die EU-Chefs auf Selenskyjs Wutrede? Sie feierten am Donnerstagabend ihre eigenen Beschlüsse. "Wir stehen ganz klar an der Seite der Ukraine", sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Kanzler Olaf Scholz dozierte: "Es ist unverändert wichtig, dass wir dem brutalen russischen Angriff etwas entgegensetzen, indem wir die Ukraine unterstützen." EU-Ratspräsident Charles Michel betonte: "Sie sehen also, wir sind geeint. Die Europäische Union ist robust und solide. Wir verteidigen unsere Werte."

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Es bleibt nach diesem ersten Gipfeltag in Brüssel die Frage: Leben Selenskyj und die EU-Spitzen in verschiedenen Welten? Reden Sie einander vorbei? Versteht die eine Seite nicht richtig, was die andere Seite braucht?

Fakt ist: Die Ukraine ist in den vergangenen drei Tagen auf dem Kriegsschauplatz erheblich unter Druck geraten. Es wurden einige der ohnehin wenigen weitreichenden hochmodernen Patriot- und Nasam-Luftabwehrsysteme zerstört. Bei Awdijiwka - einer ehemaligen ukrainischen Festungsstadt, die die Russen nach einem Dauerbeschuss mit tonnenschweren hochexplosiven FAB-1500-Gleitbomben Mitte Februar erobert hatten - sind jetzt russische Streitkräfte durch die ukrainischen Verteidigungslinien durchgebrochen und haben zwei weitere Ortschaften, Orliwka und Tonenke, erobert.

In den Nächten zu Donnerstag und Freitag gerieten Kiew, Charkiw und weitere Teile des Landes zudem unter heftigen Dauerbeschuss von russischen Raketen und iranischen Drohnen. Und dann verkündete Moskau auch noch, die Produktion von Artillerie-Munition im vergangenen Jahr um fast das Zweieinhalbfache gesteigert zu haben - Angaben, die Experten für durchaus glaubwürdig halten. Dagegen wird die Ukraine nach einem Bericht der "Washington Post" wegen Munitionsmangel demnächst vermutlich nur noch eine von fünf russischen Raketen abfangen können. Derzeit sind es noch vier von fünf Raketen, die man auszuschalten versucht.

Es war vermutlich diese düstere Lage - zusammen mit der strikten Weigerung der EU-Regierungen unter Führung von Berlin und Paris, Beitrittsverhandlungen mit Kiew schon im März zu eröffnen - die Selenskyj zu seinem Wutausbruch brachte. Er hat offensichtlich das Gefühl, dass die Europäer den Ernst der Lage noch immer nicht verstanden haben.

Immerhin einen Erfolg kann Selenskyj verbuchen

Immerhin darf Selenskyj weiter hoffen. Die Ukraine kann nun neue milliardenschwere Militärhilfen der EU erwarten. Kanzler Scholz und andere Staats- und Regierungschefs beschlossen, Pläne zur Nutzung von Zinserträgen aus dem eingefrorenen russischen Zentralbank-Vermögen in Höhe von rund 210 Milliarden Euro voranzutreiben. Allein dieses Jahr dürften bis zu drei Milliarden Euro zusammenkommen. Bis zum 1. Juli könnte die erste Milliarde eingesetzt werden, sagte von der Leyen. Scholz wiederum erklärte, das Geld solle vor allem zum Kauf von Waffen und Munition verwendet werden, die die Ukraine für ihren Verteidigungskampf brauche.

EU-Chefdiplomat Josep Borrell hatte zuvor vorgeschlagen, 90 Prozent der nutzbaren Gewinne für militärische Ausrüstung zu verwenden. Die restlichen zehn Prozent würden dann in den EU-Haushalt fließen und für den Wiederaufbau der Ukraine genutzt werden. Dies war ein Zugeständnis an neutrale Staaten wie Österreich und Irland, die keine Gelder für Waffenkäufe bereitstellen wollen. "Wir beschleunigen unsere militärische Unterstützung - Munition, Raketen, Luftverteidigungssysteme", schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel im Onlinedienst X. Das steht so nun auch in der Abschlusserklärung des Gipfels.

Aber dabei wollen es die EU-Regierungen nicht belassen. Sie haben sich auf Druck der Balten, der osteuropäischen Staaten und Frankreichs eine neue Formulierung ausgedacht, um ihre Entschlossenheit zur Unterstützung Kiews noch deutlicher zu machen. Demnach will die EU die Unterstützung der Ukraine nicht nur - wie es in bisherigen Erklärungen heiß - "so lange wie nötig", sondern neuerdings auch und "so intensiv wie nötig" fortsetzen.

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Der deutsche Kanzler drängte die anderen EU-Mitgliedstaaten darum erneut dazu, noch mehr an Militärhilfe zu leisten. "Es müssen alle europäischen Staaten einen guten Beitrag leisten. Ich sehe da auch erkennbar Fortschritte", sagte er. Er verwies erneut darauf, dass Deutschland mit gelieferten oder bereits zugesagten Waffen im Wert von 28 Milliarden Euro der größte Unterstützer der Ukraine in der EU sei. Das ist aber auch kein Wunder.

Denn immerhin ist Deutschland mit einem nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 4,46 Billionen Euro (noch) die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Setzt man die bis Mitte Januar dieses Jahres zugesagten bilateralen Militärhilfen an die Ukraine in Relation zum BIP, so beträgt der deutsche Wert laut Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) lediglich 0,57 Prozent. Dagegen stehen Länder wie Estland (3,6 Prozent), Dänemark (2,4), aber auch die Niederlande (0,67) deutlich großzügiger da. Frankreich und Italien stellen der Ukraine dagegen nur 0,07 Prozent des BIP an bilateralen Hilfen zur Verfügung, bei Großbritannien sind es 0,55 Prozent.

Estlands liberale Ministerpräsidentin Kaja Kallas - die als heiße Anwärterin auf den Posten der EU-Chefdiplomatin und damit ab Herbst als mögliche Nachfolgerin von Borrell gilt - missfallen die großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei den Finanzhilfen. Sie will die bilateralen Unterstützungsmaßnahmen künftig verstetigen. Kallas schlug dazu während des Gipfels vor, dass jedes EU-Land mindestens 0,25 Prozent des BIP für Militärhilfen an die Ukraine ausgeben sollte. Dann könnten die Ukrainer Russland "übertrumpfen", betonte sie. Der Vorschlag fand aber keine Mehrheit.

Einen Erfolg konnte Selenskyj bei diesem Gipfeltreffen dann aber doch noch verbuchen. Kommissionspräsidentin von der Leyen will künftig Importzölle auf russisches Getreide erheben. Die Kommission habe einen Vorschlag zu solchen Abgaben auf russisches und belarussisches Getreide sowie Ölsaaten vorbereitet, sagte von der Leyen in der Nacht zum Freitag.

Der Vorschlag wird bereits für diesen Freitag erwartet. Von der Leyen warf Russland vor, "den EU-Markt für diese Produkte zu destabilisieren". Die Kommission wolle sicherstellen, dass Russland "gestohlenes ukrainisches Getreide" nicht auf den EU-Markt bringen könne, sagte die Kommissionschefin weiter. Zuvor hatte Selenskyj den Europäern in seiner Videobotschaft vorgeworfen, weiterhin "ungehindert" russische Agrarprodukte zu importieren.

Neben der Ukraine waren auch Bosnien-Herzegowina und Israel wichtige Gipfelthemen. Die EU-Staaten verschärften ihren Ton gegenüber Israel und fordern nach monatelangen Debatten angesichts der dramatischen Notlage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen eine sofortige Feuerpause. Diese solle zu einem nachhaltigen Waffenstillstand, zur bedingungslosen Freilassung aller im Gazastreifen festgehaltener Geiseln und zur Bereitstellung humanitärer Hilfe führen, heißt es in einer von den Staats- und Regierungschefs verabschiedeten Erklärung. "Gaza steht vor einer Hungersnot", sagte von der Leyen.

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Israel wird zudem aufgefordert, in Rafah im äußersten Süden des Gazastreifens keine Bodenoffensive zu beginnen, die die bereits katastrophale humanitäre Lage verschlimmern und die dringend benötigte Grundversorgung mit humanitärer Hilfe verhindern würde. In der Stadt leben derzeit rund 1,5 Millionen Zivilisten - die meisten von ihnen sind Flüchtlinge aus anderen Teilen des Gazastreifens. Die Erklärungen aus Brüssel dürften Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu aber wenig beeindrucken. Die Europäer spielen keine wesentliche Rolle im Nahen Osten. Außerdem weiß Netanjahu, dass die EU niemals Sanktionen gegen sein Land verhängen oder auch nur bestehende Vereinbarungen aufkündigen würde, weil dazu die notwendigen Mehrheiten fehlen.

Die 27 EU-Staats- und Regierungschef entschieden am Donnerstagabend in Brüssel auch, Beitrittsgespräche mit Bosnien-Herzegowina zu beginnen. Das Land gehöre zur europäischen Familie, sagte EU-Ratspräsident Michel. Die EU-Kommission solle nun den Verhandlungsrahmen für Gespräche vorbereiten. Kanzler Olaf Scholz bezeichnete die Entscheidung als "klares Zeichen für ein starkes Europa". Das europäische Friedensprojekt wachse.

"Das ist die verdiente Auszeichnung für den beeindruckenden Reformwillen, den unsere Freunde in Sarajevo in den letzten Monaten an den Tag gelegt haben. Sie haben bewiesen, dass es ihnen ernst ist mit dem Weg in Richtung EU-Mitgliedschaft", erklärte Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg. "Heute ist einer der besten Tage in der Geschichte von Bosnien-Herzegowina", sagte der Außenminister des Landes, Elvedin Konakovic, dem TV-Sender N1. In Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, wurden hunderte EU-Flaggen gehisst.


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