Mittwoch, 06.09.2023, 19:58 Uhr Aktualisiert um 20:00 Uhr
Freiwillig in den Ukrainekrieg - Ein Schweizer zieht an die Front
Der 37-Jährige ist Vater zweier Teenager und lebt allein in der Westschweiz. Er hat letztes Jahr im Krieg in der Ukraine gekämpft - freiwillig. Doch wie kam es dazu?
Am 27. Februar 2022 rief der ukrainische Präsident Selenski die "Internationale Legion zur Verteidigung der Ukraine" ins Leben. Tausende Freiwillige strömten in die Ukraine, um gegen Russland zu kämpfen.
Der Grossteil hat das Land wieder verlassen. Heute sollen laut Schätzungen rund 2000 ausländische Kämpfer in der Ukraine anwesend sein, davon die meisten mit militärischer Erfahrung.
Viele Kämpfer stammen aus ehemaligen Sowjetrepubliken, Osteuropa und den USA. Neben der Internationalen Legion gibt es auch länderspezifische Einheiten wie die "Georgische Legion" oder das belarussische "Kastus Kalinouski Regiment".
Freiwillige, die sich der Internationalen Legion anschliessen, unterschreiben einen Vertrag mit der ukrainischen Armee. Ihr Gehalt entspricht dem der ukrainischen Soldaten. Für Kämpfe an der Front gibt es laut Medienberichten etwa 2500 Franken im Monat.
Im Sommer 2022 berichtete das ukrainische Onlineportal "The Kyiv Independent" von Chaos und Missständen in Teilen der Legion. Einzelnen Kommandeuren wurde Machtmissbrauch, Diebstahl von Waffen und Gütern, Übergriffe oder die Entsendung in selbstmörderische Einsätze vorgeworfen.
Ende Februar 2022. Wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wendet sich Präsident Wolodimir Selenski an die Bürger des Westens. Er ruft sie dazu auf, der ukrainischen Armee bei der Verteidigung gegen Putins Truppen zu helfen. Jérôme fühlt sich angesprochen.
Der Westschweizer vernetzt sich mit ausländischen Kämpfern über die sozialen Medien. Im September 2022 reist er zum ersten Mal in die Ukraine, um sich der Internationalen Legion für ausländische Kämpfer anzuschliessen. Nach dem Training in Militärcamps wird er in eine Spezialeinheit aufgenommen. Die internationale Truppe kämpft an der Front in der Region Luhansk.
Es ist der 25. November 2022. Am frühen Morgen verlassen Jérôme und seine Kameraden den Stützpunkt. Sie wissen: Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sie den Russen begegnen. Das Gebiet ist vermint.
Mit dabei ist auch der Pole Daniel, der hier im Bild zu sehen ist.
Dieses Video stammt von Daniels Helmkamera. Es zeigt einen Minenräumer, der die Truppe anführt. In der Ferne hört man Schüsse.
Dann die Explosion. Ein Stolperdraht hat die Mine gezündet.
Die Mine streut Stahlkugeln. Eine trifft Jérôme im Gesicht.
Der Minenräumer ist auf der Stelle tot. Daniel wird schwer verletzt. Sanitäter sind keine in der Nähe.
Jerôme Ukraine-Kämpfer
Jérôme und seine Kameraden tragen Daniel zu einem Schützenpanzer. Unter Artilleriebeschuss fahren sie raus aus der Kampfzone. Kurz vor der Ankunft des Krankenwagens verliert Daniel das Bewusstsein. Die Kameraden versuchen, ihn wiederzubeleben. Vergebens. Daniel stirbt. Seit der Minenexplosion sind fast drei Stunden vergangen. So erzählt es Jérôme.
Daniel war 35 Jahre alt und kam aus Warschau. Bei der Truppe war er beliebt. Er sei immer gut gelaunt gewesen, sagen seine Kameraden.
Seit Februar 2022 sind laut dem Experten Kacper Rekawek in der Ukraine zwischen 200 und 250 ausländische Freiwillige gestorben. Neben Kämpfern zählen dazu auch Ausländer, die für logistische Aufgaben eingesetzt wurden. Rekawek forscht am Internationalen Zentrum für Anti-Terrorismus (ICCT) in Den Haag und hat ein Buch über ausländische Kämpfer in der Ukraine geschrieben. Im Einsatz seien heute etwa 2000 Ausländer, so Rekawek gegenüber SRF. Die ukrainische Armee publiziert keine Zahlen - weder zu Ausländern, die derzeit an der Front kämpfen, noch zu jenen, die gefallen sind oder verletzt wurden.
Nach einem heiklen Einsatz im letzten Januar hat Jérôme genug vom Krieg. "Wir verbrachten die Nacht an der Front in einem Dorf. Man hörte die ganze Zeit, wie Drohnen Granaten abwerfen. Das bleibt einem im Kopf", erinnert er sich.
Söldnerdienste sind in der Schweiz strafbar
Schweizern ist es verboten, sich in den Dienst einer ausländischen Armee zu stellen. Dafür droht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. So sieht es Artikel 94 des Militärstrafgesetzes vor. Derzeit führt die Militärjustiz Verfahren gegen sieben Schweizer, die in der Ukraine kämpfen oder gekämpft haben, wie sie gegenüber SRF bestätigt. Wie viele Schweizer aktuell in der Ukraine kämpfen, ist nicht bekannt.
Jérôme rät anderen davon ab, in den Krieg zu ziehen. "Man sollte sich das gut überlegen", sagt er. "Es ist ein Gemetzel und man ist gezwungen, einen Freund sterben zu sehen oder Tote zu sehen."
Der Krieg in der Ukraine ist brutal. Viele Ausländer seien von den heftigen Kämpfen überrascht gewesen und hätten das Land wieder verlassen, erzählt Damien Magrou. Der Anwalt aus Norwegen war bis September 2022 Pressesprecher der Internationalen Legion der ukrainischen Armee. Er sagt: "Es ist eine ganz andere Art von Krieg. Selbst erfahrene Kämpfer waren von der Intensität der Kämpfe und insbesondere der Artillerie so geschockt, dass sie beschlossen, wieder zu gehen."
Im Januar 2023 kehrt Jérôme zurück in die Schweiz. Doch der Krieg lässt ihn nicht los. Er gehe demnächst wieder zurück, sagt er beim ersten Treffen mit SRF im Juni. Das, obwohl Schweizer Bürger sich strafbar machen, wenn sie in einem anderen Land Militärdienst leisten (siehe Box). Das Risiko nehme er auf sich, sagt er.
Ich gehe zurück, weil ich etwas aus meinem Leben machen möchte. Ich finde keine Arbeit. Zuhause langweile ich mich.
Autor: Jêrome Schweizer Kämpfer in der Ukraine
Jérôme ist ausgebildeter Milchtechnologe. Er lebt jedoch von der Sozialhilfe. Er legt SRF sein Strafregister offen: Eine bedingte Geldstrafe wegen eines geringfügigen Vermögensdelikts. Zu seiner Familie hat er wenig Kontakt. Seine Kindheit verbrachte er in einem Heim.
Er wirkt, als hätte er wenig zu verlieren. Doch was genau ihn antreibt, bleibt unklar.
Diesen Sommer reist Jérôme zurück in die Ukraine. Die Einheit, in der er gekämpft hat, existiert nicht mehr. Er versucht, sich einer neuen anzuschliessen.
Jérôme sendet SRF Videobotschaften und Nachrichten aus der Ukraine. Er schreibt, dass er sich bei verschiedenen Einheiten beworben hat. Doch es macht den Eindruck, als zögere er, wieder zu kämpfen.
Maya Janik (Autorin),
Jonas Glatthard, Roland Specker (Redaktion),
Robert Salzer (Frontend-Entwicklung)
Rundschau, 06.09.2023, 20:05 Uhr