Analyse zum Sommerinterview von Ulrich Reitz Ein Lang-Satz zeigt, wie weit die Grünen sich von Stimmung in Bevölkerung entfernt haben

FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz

Montag, 22.07.2024, 06:47

Grünen-Chefin Ricarda Lang will ihre Partei zur führenden Orientierungskraft machen. Selten war ein parteipolitisches Ziel unrealistischer. Sozialforscher analysiert, wie grob sich die Grünen bei den Wählern verschätzt haben

Den Grünen geht es schlecht, sie verlieren Wahlen, zuletzt die in Europa, sie sind auch keine Jugendpartei mehr. Und bei den bevorstehenden drei Landtagswahlen im Osten kann auch noch alles viel schlimmer werden, womöglich fliegen die Grünen in Thüringen sogar aus dem Parlament. Die Umfragen sind desaströs. Im Video sehen Sie, worauf Sozialforscher Andreas Herteux die massiven Stimmenverluste der Grünen zurückführt.

Die Stimmung in der Bevölkerung ist wie eine neue Bewegung, die die Grünen vor gut 40 Jahren selbst einmal waren - nur: sie ist ins glatte Gegenteil umgeschlagen. Wenn es heute einen Megatrend gibt, dann den: Anti-Grün.

Das ist der Zeitgeist, der Sahra Wagenknecht und ihre neue Partei so stark macht. Davon profitiert die AfD - der Wunsch sehr vieler Menschen, es vor allem anders zu machen als die Grünen, lässt selbst eine rechtsradikale Partei noch stark werden - vor allem im Osten des Landes. Der Grund: Dort hält man vieles, wofür die Grünen stehen, von der Migrations- über die Energie- bis hin zur Ukraine-Politik für irrational.

Ricarda Lang: Die Grünen müssten "führende Orientierungspartei" in Deutschland sein

Aktuell wird dieser anti-grüne Trend auch noch aus dem Ausland verstärkt - von Donald Trump, der spätestens seit dem Attentat auf ihn zum Favoriten für die Präsidentschaftswahlen am 4. November aufgestiegen ist. Weshalb betreibt Deutschland mit seiner grünen Politik eine Deindustrialisierung des Landes, fragt konkret Richtung Deutschland Trumps Vize-präsidentschaftskandidat J.D. Vance.

So viel zum Rahmen, in dem die Grünen sich gerade bewegen müssen. Und deshalb stößt ein Satz der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang besonders auf, weil genau der belegt, wie weit die Grünen sich inzwischen von der Stimmung in der Bevölkerung entfernt haben: Die Grünen, sagt Lang, müssten "führende Orientierungspartei" in Deutschland sein. Bloß: Wie genau sollten sie das schaffen?

"Mehr zuhören", die "Sorgen der Menschen ernst nehmen" - das gibt Ricarda Lang als Rezept aus. Was auch nur die Frage provoziert: Wenn sie jetzt damit anfangen wollen, zuzuhören - was war denn dann das, was die Grünen in den vergangenen drei Jahren an der Regierungsmacht veranstaltet haben?

Wer wie der wahrscheinliche nächste Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck mit dem Anspruch antritt, die Grünen wieder anschlussfähig für die politische Mitte zu machen, muss auf die wichtigsten Fragen bessere Antworten geben als die Grünen das bisher getan haben.

Lang sagt, die Migrationskrise sei nicht der Grund für den Sinkflug der Grünen

Beispiel Migration. Lang sagt, die Migrationskrise sei nicht der Grund für den Sinkflug der Grünen. Nun - das ist mutig - auf kaum einem Politikfeld agieren die Grünen mehr an den Erfahrungen der Menschen in Deutschland vorbei als bei der Migration. Die ist längst außer Kontrolle geraten, kaum ein Tag vergeht, an dem nicht mindestens ein Messerattentat oder eine Vergewaltigung durch einen oder gleich mehrere Migranten durch die Nachrichten läuft.

Lang sagt, das zunehmende Unsicherheitsempfinden der Bevölkerung habe viel mit einer nur gefühlten Wirklichkeit zu tun. Nein, so ist es gerade nicht. Das Unsicherheitsempfinden hat zu tun mit Tatsachen, bei der Kriminalitätsentwicklung zum Beispiel. Dass Deutschland längst nicht mehr als sicheres Land gesehen wird, geht - eindeutig - auf die Folgen einer ungesteuerten und kaum gebremsten Migration zurück. Von Menschen zudem, von denen gerade einmal knapp zwei Prozent politisch verfolgt im Sinn des deutschen Grundgesetzes sind.

Lang macht Desintegration zu einer Bringschuld der Deutschen

Lang will jetzt mehr tun für die Integration der Migranten - auf mangelnde Integration führt sie die Probleme zurück. Damit macht sie die Desintegration zu einer Bringschuld der Deutschen - und nicht zu einer Holschuld der Menschen, die angeblich auf der Suche nach Schutz in die Bundesrepublik einreisen. Es ist ein uralter Denkfehler der Grünen.

Dabei steht längst fest, dass viele Einwanderer, insbesondere aus islamischen Staaten wie Syrien, Afghanistan und dem Irak, ihre Probleme aus diesen Ländern nach Deutschland importieren. Das ist auch einer der Gründe, weshalb immer weniger junge Menschen grün wählen. Die Gefährdung der inneren Sicherheit in den Städten ist keine Frage des Alters der Opfer.

Lang führt das besondere Problem der Grünen im Osten darauf zurück, dass die Grünen dort von immer mehr Menschen und den anderen Parteien zum Feindbild erklärt würden. Aber auch das passiert nicht einfach mal so, aus dem Nichts sozusagen. Sondern es gibt genug Referenzpunkte dafür - gerade aus Sicht einer vom Staat desillusionierten Bevölkerung.

Die Grünen wollen für alles Mögliche mehr Schulden machen

Im Osten geraten die Grünen nicht nur wegen der gutmütig-naiven Migrations- und Integrationspolitik unter die Räder. Sondern auch wegen der Verteuerung der Energie - durch den aktionistischen Verzicht auf den Weiterbetrieb funktionsfähiger Kernkraftwerke, durch den Import von teurem amerikanischen Fracking-Gas, was ein anderes Beispiel für ideologisch bedingten Technologieverzicht bedeutet.

Die maßgeblich von den Grünen vorangetriebene Energiewende hat einstweilen dazu geführt, dass noch nie so viele Gasheizungen eingebaut wurden wie im vergangenen Jahr. Und dass Elektroautos zu Ladenhütern werden, gebrauchte gelten schon fast als unverkäuflich.

Und aktuell baut sich eine schon lange nicht mehr dagewesene Insolvenzwelle in Deutschland auf. Oder kann man schon von einem Insolvenz-Tsunami sprechen? Selbstredend sind hierbei die Grünen nicht für alles verantwortlich, vieles ist auch der ohnehin fälligen Transformation der Wirtschaft geschuldet. Aber wenn die Wirtschaft schwächelt, geht das nun einmal mit der Regierung heim, und es ist Jahre her, dass das Verhältnis der deutschen Wirtschaft - vom Mittelstand bis zur Industrie - zu einer deutschen Regierung so schlecht war, wie es heute ist.

Es ist völlig in Ordnung, wenn Parteien sich Ziele setzen. Man darf dabei auch durchaus ehrgeizig sein. Und wenn man denn eine gute Idee hat, darf man den Menschen auch etwas abverlangen. Die Grünen aber wollen für alles Mögliche mehr Schulden machen. Was wäre dies anders als: phantasielos?

Noch nie waren die Grünen weiter als heute von dem Zustand entfernt, für eine "führende Orientierungspartei" gehalten zu werden. Dass sie auch noch glauben, sie seien es, oder könnten es leicht wieder sein, zeigt nur, wie weit ihre Wirklichkeitsverweigerung fortgeschritten ist.


Quelle: