Interview Ein Geheimdienstler blickt zurück: "Unsere politische Strategie in Afghanistan war untauglich" Alex Younger, bis vor einem Jahr Chef der britischen Auslandspionage, räumt ein, dass die Geheimdienste die Gefahr eines Kollapses der afghanischen Regierung unterschätzt hatten. Er kritisiert, dass man die Taliban nicht frühzeitig politisch eingebunden hat.

Andreas Rüesch 04.09.2021, 05.30 Uhr

Herr Younger, Sie haben jahrelang undercover in Afghanistan gearbeitet. Wie bewerten Sie die Machtübernahme der Taliban?

Zweifellos ist das ein sehr bedeutender Rückschlag für den Westen. Es ist zugleich ein Signal an all jene, die uns Schaden wünschen - nicht nur Terroristen, sondern auch Staaten, die über diese Demütigung des Westens jubeln. Zudem bereitet es mir grosse Sorge, dass die terroristische Bedrohung durch diese Entwicklung zunehmen könnte. Denn selbst in dem Fall, dass die Taliban ihre Autorität im Lande durchsetzen und die Ausbreitung verschiedener Terrorgruppen verhindern wollen, ist es fraglich, ob sie dies können. Ich bezweifle es.

Weshalb?

Wir haben jahrelang versucht, in Afghanistan einen Staat aufzubauen, und sind gescheitert. Natürlich haben die Taliban gewisse Vorteile im Vergleich zu uns, aber auch sie repräsentieren nicht das ganze Land. So befürchte ich, dass die Zukunft Afghanistans ein chronischer Bürgerkrieg sein wird. Das ist ein Umfeld, in dem der Terrorismus gedeiht. Dessen Bekämpfung ist viel schwieriger, wenn man wegen des Abzugs keine "Augen und Ohren" im Land mehr hat.

Gleichzeitig müssen wir das grosse Ganze im Blick behalten. Gewisse Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus werden überdauern, da bin ich überzeugt. Afghanistan hat sich verändert, und wir haben uns verändert. Es gelang uns, die dort einst existierende Terrorinfrastruktur der Kaida, die in ihren Lagern Hunderte von Terroristen ausgebildet hatte, zu zerschlagen. Zudem sind wir heute in der Terrorabwehr viel besser als damals. Ich glaube auch, dass die ausländische Militärpräsenz in Afghanistan enden musste. Obwohl ich enorme Vorbehalte gegenüber der abrupten Art des Truppenabzugs habe, kritisiere ich die Entscheidung zum Abzug nicht.

Weshalb liessen sich auch die Geheimdienste von der Schnelligkeit der Taliban überraschen?

Klar, hier steht die Frage eines Geheimdienstversagens im Raum. Das gilt es zu untersuchen. Ich glaube nicht, dass es ein Versagen in der nachrichtendienstlichen Arbeit war. Anders liegt der Fall bei der Bewertung all der gesammelten Informationen: Das Risiko, dass die afghanische Armee sich einfach auflösen würde, wurde unterschätzt. Aber man muss bedenken, dass es eine sehr komplexe Aufgabe ist, eine Massenpsychologie vorauszusagen. Im Nachhinein ist es leicht zu sagen, dass man den Kollaps in der Moral des Militärs hätte voraussehen müssen.

Zur Person
Andrew Milligan / Reuters
Alex Younger, Chef des MI6 von 2014 bis 2020
Nach einer Karriere als Auslandagent und Leiter der Anti-Terror-Abteilung des britischen Geheimdiensts MI6 stand Alex Younger dieser Behörde sechs Jahre lang vor. Seit seinem Austritt aus dem Staatsdienst arbeitet er als Berater für Fragen der Cybersicherheit.

Aber im Nachhinein scheint klar, dass es ein unglaubliches Misstrauen gegenüber der Zentralregierung gab und die meisten Soldaten nicht ihr Leben für diese riskieren wollten.

Ja - und blicken wir den Tatsachen ins Gesicht: Die Art des westlichen Truppenabzugs machte dieses Resultat noch wahrscheinlicher. Präsident Trump handelte mit den Taliban vor zwei Jahren aus, dass diese die afghanischen Streitkräfte weiter angreifen durften, solange sie die Amerikaner in Ruhe liessen. Stellen Sie sich vor, was das für einen Effekt auf die Kampfmoral der afghanischen Armee hatte! Dasselbe gilt für die plötzliche Einstellung der amerikanischen Logistikhilfe für die Afghanen.

War es nicht auch ein Fehler, dass man es versäumte, vor dem Abzug eine politische Lösung unter Einbezug der Taliban zu erzielen?

Natürlich, unsere politische Strategie war untauglich. Wir alle wussten, dass der einzige Weg zur Beseitigung des Terrorismus in Afghanistan über die Bildung einer breit abgestützten Regierung führen würde. Trotzdem scheiterten wir. Dabei war diese Notwendigkeit schon vor zehn Jahren klar. Man hätte damals auf dem Verhandlungsweg mehr Risiken eingehen müssen. Aber im Nachhinein ist man immer klüger.

War es naiv, in Afghanistan nicht nur Terroristen zu bekämpfen, sondern auch Staatsbildung zu betreiben?

Man muss die Zeitumstände im Auge behalten. 2001 war man unter dem Eindruck von zwei recht erfolgreichen westlichen Interventionen - in Sierra Leone und im früheren Jugoslawien. Es war richtig, in Afghanistan einzumarschieren, nach allem, was am 11. September 2001 geschehen war. Und wir hatten nie die Illusion, dass man eine Lösung herbeibombardieren konnte. Aber wir reagierten nicht rasch genug, als sich etwas Entscheidendes abzeichnete - nämlich, dass es kaum gelingen konnte, eine breit akzeptierte afghanische Regierung zu bilden, wenn dabei der von den Taliban repräsentierte Bevölkerungsteil ausgeschlossen blieb.

Mit der Zeit wurde auch die Mission immer breiter definiert. Anfangs bestand sie darin, weitere Bombenanschläge in Europa und den USA zu verhindern. Dann kamen alle möglichen, durchaus noblen Ziele hinzu: die Modernität nach Afghanistan zu bringen oder den Bildungsstand von Frauen und Mädchen zu erhöhen. Es wäre nötig gewesen, diese Ziele von der eigentlichen Mission zu trennen, der Terrorbekämpfung. Das wurde nicht genügend verstanden.

Hatten die Geheimdienste Mühe, die Realitäten im Land zu erkennen und zu sehen, dass Afghanistan nicht Ex-Jugoslawien ist?

Ich glaube nicht, dass dies das Problem war - das sage ich als ehemaliger Geheimdienstchef. (Lacht.)

Zum Beispiel heisst es, dass es vor zwanzig Jahren in den Reihen des MI6 keinen einzigen Mitarbeiter gab, der Paschtu sprach.

Ich weiss nicht, ob das zutrifft. Aber es könnte stimmen. Die Welt befindet sich in raschem Wandel, und wir müssen Prioritäten setzen. Es braucht Jahre, um eine Sprache zu erlernen, und so muss man lange im Voraus versuchen, aufs richtige Pferd zu setzen. Jedenfalls hatten wir viele, die nach Beginn der Intervention Paschtu lernten. Aber sicherlich wirft es kein gutes Licht auf uns (und die Amerikaner), wie wir nach dem sowjetischen Abzug aus Afghanistan 1989 diesem Land den Rücken gekehrt haben. Meine Warnung lautet: Wir dürfen jetzt nicht denselben riesigen Fehler machen.


Quelle: NZZ vom 04.09.2021