Eine Leserin meldet sich beim Tagesspiegel.
Die Schilderungen der Frau, die anonym bleiben möchte, decken sich mit ähnlichen Beschreibungen, die den Tagesspiegel erreichen. "Kreuzberger Zustände" heißt es in der Betreffzeile. Wir dokumentieren die E-Mail im Wortlaut.
"Wir leben seit 15 Jahren in Berlin Kreuzberg 36 (seit einigen Jahren mit Kindern). Wir sind aus unserem an sich innig geliebten Kiez rund um den ach so berüchtigten Görlitzer Park, sehr viel Kummer, Ärger und Frust gewöhnt - aber das, was in den letzten ein, zwei Jahren hier passiert, ist auch uns zu viel. Es geht nicht um den Park. Es geht um einen ganzen Kiez, vielleicht sogar einen ganzen Bezirk, was weiß ich, ganz Berlin?
Heute Morgen mussten wir feststellen, dass in unser Auto - ein sichtbar erkennbares Familienauto - zum dritten Mal in vier Monaten eingebrochen wurde. Die ersten beiden Male wurden die Scheiben eingeschlagen. Dieses Mal können wir uns nicht erklären, wie der Einbruch vonstattenging.
Dass innerhalb von 48 Stunden an einer belebten Straße offensichtlich in dort geparkte Autos eingestiegen und dann das bisschen, was aus vorangegangenen Einbrüchen noch übriggeblieben ist, mitgenommen wird - so wie ein Abschleppseil, das nun mal ins Auto gehört - lässt uns fassungslos zurück. Und, ja, die Polizei wurde jedes Mal gerufen. Und dann?
Aber damit nicht genug: In den Keller und Dachboden unseres Hauses wurde in den letzten zwölf Monaten zweimal eingebrochen - geklaut wurden persönliche Gegenstände, alte Elektrogeräte, Kleidung, einfach alles. Letzte Woche waren alle Fahrradreifen der im Hof stehenden Fahrräder platt oder zerstochen. Ja, die Polizei hat auch diese Einbrüche aufgenommen, nein, das bringt uns an sich nichts.
Drogenhandel und Konsum sind hier schon immer ein Problem gewesen. Aber bisher hatte sich das Geschehen auf bestimmte Ecken in unmittelbarer Nähe des Görlitzer Parks konzentriert. Inzwischen hat es sich - selbst ohne Zaun - längst auf den gesamten Kiez ausgeweitet - und dramatisch verschärft. Unsere Kinder, die hier im Kiez zur Schule gehen, wissen inzwischen, was Crack ist - wir mussten sie aufklären, weil sie täglich und im schlimmsten Fall direkt in unserem Hauseingang an Menschen vorbeigehen müssen, die auf offenerer Straße harte Drogen konsumieren.
Ja, wir weisen diese Menschen darauf hin, sich doch wenigstens eine andere Ecke zu suchen, aber, nein, das kann es ja wohl wirklich nicht die Lösung sein! Im Übrigen: Nicht auszudenken, was passiert, wenn dieser Zaun wirklich kommen sollte.
Dazu kommt die Zunahme von Gewalt: Erst vor zwei Tagen hat es direkt vor unserer Haustür eine große Schlägerei mit Baseballschlägern gegeben, Polizeieinsätze wegen Gewaltausbrüchen, bei denen auch Messer und ähnliche Waffen eingesetzt werden, gehören inzwischen fast zur Tagesordnung. Und, nein, das war nicht schon immer so, das ist erst in den letzten ein, zwei Jahren so dramatisch schlimm geworden.
An der großen Kreuzung am U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof werden zunehmend und wirklich permanent alle Verkehrszeichen ignoriert, es wird über rote Ampeln, in Einbahnstraßen (in denen sich eine Grundschule befindet!) falsch herum und viel zu schnell gefahren. Und die Tempo-30-Zone rund um den Görlitzer Bahnhof ist einfach ein Witz. Nächtliche illegale Auto- oder Motorradrennen sind hier inzwischen genauso zu beobachten wie in der Tauentzienstraße. Ja, wir haben Ordnungsamt und Polizei wiederholt darauf aufmerksam gemacht, aber, auch hier: Es ändert sich nichts, und es wird nur noch schlimmer.
Illegal abgeladener Müll, Fahrradleichen ohne Ende, verbrannte Mülltonnen, Roller im Kanal, liegengelassene Zeltlager, ich kann schon nicht mehr aufzählen, wie oft wir auf diese Missstände beim Ordnungsamt hingewiesen haben, weggeräumt wird nach solch einer Benachrichtigung in den seltensten Fällen.
Allein in einem Radius von unter 50 Metern um unser Haus zählen wir 20 ganz offensichtlich nicht mehr gebrauchte Schrotträder. Dazu kommen zunehmende Luftverschmutzung und Lärmbelästigung, ich führe es nicht weiter aus, die negativen Veränderungen dieses Kiezes sind mit allen Sinnen zu erleben.
Gleichzeitig schließen geliebte kleine Kiezläden, müssen Freunde wegziehen, machen Kitas zu - weil sie sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten können. Hauptsache es gibt hier immer mehr Restaurants, Imbisse, Shisha Bars, Spätis für die Touristen. Auf der letzten verbliebenen Brache im Kiez soll ein Hotel entstehen.
Sicherlich könnte man jetzt sagen: Dann zieht doch weg. Aber: Wir können uns einen Umzug wegen der hohen Mietpreise gar nicht leisten, und zweitens: Das hier ist unser Zuhause. Und wir möchten alles tun, um es vor diesem zunehmenden Verfall zu retten. Wir möchten uns hier wieder sicher und wohlfühlen.
Es müssen Lösungen her, und zwar schnell, sonst geht dieser wirklich schöne Kiez vor die Hunde. Wir sind für ein freiheitliches Miteinander, wir sind für die Unterstützung der Schwachen unserer Gesellschaft, wir sind für soziale Lösungen, Unterkünfte für Obdachlose und Drogenabhängige.
Wir sind inzwischen aber auch für stärkere, sichtbarere und regelmäßigere Polizeikontrollen im ganzen Kiez, für das Einrichten von Verkehrskameras und Blitzern an neuralgischen Punkten, für die Erhöhung von Strafen bei Gesetzesbrüchen, und sei es "nur" das illegale Abladen von Müll. Für alles, was diesen Kiez wieder lebenswerter machen könnte, für diejenigen, die hier leben. Denn wir können nicht mehr."
Das Original zu diesem Beitrag "Dramatische Zustände in Kreuzberg: "Was im geliebten Kiez passiert, ist uns zu viel"" stammt von Tagesspiegel.