Grüne Kanzlerkandidatin Die Vergangenheit, über die Annalena Baerbock nicht gern spricht

Stand: 26.06.2021 | Lesedauer: 9 Minuten

Von

Judith Henke,
Uwe Müller

Es war die erste wichtige Station ihrer Karriere: Bis 2013 steuerte Annalena Baerbock den Landesverband der Brandenburger Grünen. Damals vernachlässigte sie ihre Aufsichtspflichten - und der Partei entstand ein Schaden im sechsstelligen Bereich. In ihrer neuen Rolle erscheint der Vorgang in neuem Licht. Annalena Baerbock zu Brandenburger Zeiten - über manche Vorgänge von damals spricht sie heute nicht gern
Quelle: picture alliance / dpa; Getty Images; Montage: Infografik WELT

"Sie kennen mich", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Schlusswort zum TV-Duell vor der Bundestagswahl 2013 gesagt. Drei Worte, die Vertrauen ausstrahlen sollten: Bei mir, liebe Zuschauer, wissen Sie, woran Sie sind. Mit diesem Slogan könnte die Frau, die Merkel jetzt beerben will, kaum für sich werben.

Weil sie noch nie ein Regierungsamt innehatte, lässt die Bekanntheit zu wünschen übrig. Hinzu kommt, dass die grüne Spitzenkandidatin jüngst mit einer Reihe von Falschangaben in ihrem Lebenslauf für Verwirrung gesorgt hat.

Eine Möglichkeit, die Politikerin Baerbock etwas näher kennenzulernen, ist: einen Blick in die Vergangenheit und in die Provinz zu werfen. Von 2009 bis 2013 leitete die gebürtige Niedersächsin den Landesverband der Grünen in Brandenburg. Es war der bis dahin wichtigste Abschnitt ihrer parteipolitischen Karriere, hier musste sie sich erstmals in einer Führungsposition bewähren. Baerbock selbst beschwört in ihrem Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" den Wert der Erfahrungen, die sie damals "als zugezogene Brandenburgerin" gemacht habe. Eine zentrale Erfahrung aus jener Zeit klammert sie jedoch in ihrer Schilderung aus.

Die Episode handelt davon, dass Baerbock als Landesvorsitzende ihren Pflichten nicht mit der erforderlichen Sorgfalt gerecht wurde. Das führte sogar zu einer Strafmilderung in einem Strafprozess, in dem Baerbock als Zeugin auftrat. Sie wollte damals keine Verantwortung für laxe Kontrollen übernehmen und inszenierte sich eher als Opfer krimineller Machenschaften. Damals ging die Strategie auf, ein Rücktritt blieb ihr erspart.

Weil Baerbock sich nun aber um das bedeutendste Amt im Staat bewirbt, ist der Vorgang relevant und erhält unerwartete Aktualität.

Rückblende, September 2009. Baerbock ist im Bundestagswahlkampf in Frankfurt (Oder) unterwegs, dort bewirbt sie sich als Direktkandidatin für ein Mandat. Obwohl sie zusätzlich auf Platz drei der Landesliste steht, weiß Baerbock, dass sie keine Chance hat: Traditionell gelingt es den Grünen in Brandenburg lediglich, einen einzigen Sitz im Bundestag zu erringen.

Aber der Wahlkampf bietet der erst 28-jährigen Baerbock eine Bühne. Das zahlt sich gut sechs Wochen später aus. Auf dem Landesparteitag in der Kleinstadt Angermünde wird sie zur Landeschefin gekürt. So, wie sie ist auch ihr gewählter Co-Vorsitzender, der Politologe Benjamin Raschke, ein Novize.

Finsterwalde statt Brüssel

Eigentlich brennt die Völkerrechtlerin Baerbock für Europapolitik. In diesem Bereich sind Posten allerdings rar gesät und heiß umkämpft. Statt aus Brüssel besteht ihr Kosmos nun aus Cottbus, Eisenhüttenstadt und Finsterwalde. Eine gewisse Distanz Baerbocks zu diesem ostdeutschen Biotop lässt die Wahl des Wohnsitzes ahnen.

Bis 2013 lebt sie mit ihrer Familie in Berlin-Mitte, am hippen Rosenthaler Platz. Die Aufbauhelferin West zieht also nicht in das ostdeutsche Bundesland um, deren Landesverband sie steuern soll. Ungeachtet dessen erzählt sie Journalisten, dass man "auch als Zugezogene gute Politik machen" könne.

Annalena Baerbock damals als Landesvorsitzende der Brandenburger Grünen
Quelle: picture alliance / ZB

Einem Thema weicht sie nicht aus: der Braunkohleförderung in der Lausitz und wie diese zu stoppen sei. Schließlich ist die ökologische Transformation das Kernanliegen der Grünen. Bei anderen Fragen, die die Brandenburger bewegen, zeigt sie sich weniger ambitioniert. "Ich habe nicht wahrgenommen, dass sie sich für Politik auf Landesebene interessiert hat", erinnert sich Cornelia Berndt, die damals für die Grünen im Kreistag von Oberhavel sitzt.

Auch Wohl und Wehe ihres Landesverbandes, der mit 776 Mitgliedern zu den kleinsten in der Republik gehört, gilt nicht gerade als Baerbocks erste Priorität. Plötzlich aber erfordert die Organisation ihre volle Aufmerksamkeit. Auslöser ist eine Vermisstenanzeige.

Ein verschwundener Schatzmeister

Im Februar 2011 meldet sich ein Elternpaar bei der Polizei und sagt, ihr Sohn sei verschwunden. Da es sich um den Schatzmeister der Brandenburger Grünen handelt, fragen Beamte dort nach. Nun stellt sich heraus, dass der Vermisste kurz zuvor 40.000 Euro vom Parteikonto abgehoben hatte.

Schnell ist klar, dass da etwas nicht stimmt. Baerbock muss als Zeugin aussagen, sie beruft eine Sondersitzung des Landesvorstands ein und informiert die Basis. "Wir hatten alle bündnisgrünen Mitglieder gebeten, sich mit öffentlichen Spekulationen zurückzuhalten", heißt es in dem internen Rundschreiben.

Das Rundschreiben kurz nach dem Verschwinden des Schatzmeisters
Quelle: WELT

Bald darauf kann der per Haftbefehl gesuchte Schatzmeister festgenommen werden. Was er nun beichtet, wächst sich nach und nach zu einem grünen Albtraum aus. Denn der Schaden ist um ein Vielfaches höher als gedacht - und die Partei ist über viele Jahre hinweg hintergangen worden.

Der Kassenwart hatte das gestohlene Geld dazu verwendet, um sich die Zuneigung von Prostituierten zu erkaufen - darunter die seiner damaligen Geliebten, die wiederum vermeintliche Schuldeneintreiber bezahlen musste. Zudem hat er selbst auf Internetplattformen bulgarische Prostituierte angeboten.

Ab November 2011 wird dem Übeltäter vor dem Landgericht Potsdam der Prozess gemacht. Während der fünf Verhandlungstage muss Baerbock als Zeugin auftreten. Entschuldigend erklärt sie, der frühere Schatzmeister habe "Graubereiche genutzt", und im Übrigen basiere Parteiarbeit stets "in gewissem Maße auf Vertrauen".

Der Vorsitzende Richter lässt das nicht gelten und hält ihr vor, möglicherweise zu gutgläubig gewesen zu sein. Der Angeklagte habe von seinen Eltern 300 Euro Taschengeld erhalten sowie eine kleine Aufwandsentschädigung als Stadtverordneter bezogen.

Darf man so jemandem, ohne näher hinzuschauen, die Parteikasse anvertrauen? Darauf gibt es im 30-seitigen Urteil, das WELT vorliegt, eine Antwort. Der Angeklagte erhält eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Dabei berücksichtigt die Kammer strafmildernd, dass ihm "die Taten durch die insoweit nicht ausreichenden Kontrollmechanismen seitens der Partei Bündnis 90/Die Grünen sehr leicht gemacht" worden seien. Baerbock und Raschke wird also eine Mitverantwortung bescheinigt.

Das Urteil des Landgerichts Potsdam zeugt von Kontrollversagen
Quelle: WELT

Auf Nachfrage von WELT zur Mitverantwortung von Baerbock kommentiert eine Grünen-Sprecherin knapp: "Der ganze Betrug wurde minutiös sowohl innerparteilich als auch in enger Zusammenarbeit mit Polizei, Staatsanwaltschaft und der Bundestagsverwaltung bei ständiger Information der Öffentlichkeit durch die damaligen Landesvorsitzenden Annalena Baerbock und Benjamin Raschke und die gesamte Partei aufgearbeitet."

Doch entscheidend ist, was der Aufarbeitung voranging. Allein von Anfang 2009 bis Anfang 2011 hatte der Schatzmeister 270.363,46 Euro aus den Kassen des Landesverbandes und des Kreisverbandes Oberhavel entwendet. Bei mehr als drei Vierteln der Summe musste er sich nicht einmal die Mühe geben, Verwendungszwecke und Empfänger zu fingieren. Ein Kontrollversagen.

Es spricht viel dafür, dass der gesamte Schaden weit höher gewesen sein dürfte. Denn ins Amt gewählt worden war der Schatzmeister schon Ende 1999. Dennoch verzichten die Grünen in Brandenburg darauf, Rechnungsberichte vor 2009 auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Stattdessen vereinbaren sie mit den Eltern des Verurteilten eine Kompensationszahlung in Höhe von 65.000 Euro und verzichten auf weitere Ansprüche.

Kaum interne Kritik

Wegen der Machenschaften in dem Landesverband ist auch ein Rechenschaftsbericht der Bundespartei falsch und muss korrigiert werden. Damals ist der Haushaltsexperte Jochen Esser, für die Grünen Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, darüber entsetzt, wie leicht dem Brandenburger Schatzmeister der Griff in die Kasse gemacht wurde. "Da geht es um Summen unterschlagenen Geldes, die ein Landesverband spüren muss", schimpft er im Gespräch mit Journalisten.

Ansonsten regt sich aber in der Partei so gut wie keine Kritik. Wie so oft schließen sich die Reihen, wenn es gilt, Angriffe von außen abzuwehren. Aufklärung wird in solchen Situationen als zweitrangig erachtet. Die Grünen bilden da keine Ausnahme.

Annalena Baerbock mit Ehemann Daniel Holefleisch
Quelle: picture alliance / SvenSimon

Baerbock kann sich außerdem auf wichtige Verbündete in der Bundesgeschäftsstelle verlassen. Da ist zum einen ihr Ehemann Daniel Holefleisch, der damals bei den Grünen die Abteilung Unternehmenskontakte leitet; zum anderen ist da Michael Scharfschwerdt, ein enger Freund und seinerzeit Büroleiter des Parteichefs Cem Özdemir.

Holefleisch hatte Baerbock während eines Europawahlkampfs kennengelernt, Scharfschwerdt war sie in Brüssel auf dem europapolitischen Parkett begegnet. Jenseits aller privaten Verbundenheit gelten der Ehemann und der Freund bis heute als Baerbocks wichtigste politische Berater.

Die beiden hatten einst als "junge Wilde" zeitgemäße Formen des Wahlkampfs in der Partei etabliert. Später stellten sie ihr Wissen der Privatwirtschaft zur Verfügung. Holefleisch ist nun in der Berliner Dependance des Logistikkonzerns Deutsche Post DHL als Senior Expert Corporate Affairs für direkte Drähte in die Politik zuständig.

Scharfschwerdt wechselte von den Grünen erst zu Joschka Fischers Beratungsfirma JF&C, bevor er in Düsseldorf zum Kommunikationschef der Consultingfirma Kearney aufstieg. In seiner Abteilung sitzt der Marketingexperte Can Erdal, der von sich sagt, er habe früher mit Holefleisch "mehr als 15" grüne Wahlkämpfe bestritten, und der inzwischen ebenfalls zu den engen Vertrauten Baerbocks gehört.

"Grüne Lobbyboys"

Dass Baerbock insbesondere auf Lobbyisten hört, gefällt nicht jedem in der Partei. Für Kritiker dieser Verbindung sind Can, Scharfschwerdt und Holefleisch "grüne Lobbyboys", bei denen die Abgrenzung von Parteiarbeit und PR-Tätigkeit oft kaum erkennbar sei.

So hat sich Scharfschwerdt jüngst als Kearney-Angestellter auf der Berufsplattform LinkedIn lobend zur Zusammenarbeit zwischen Grünen und der Wirtschaft geäußert. Vergangene Woche teilte er dann mit, dass er sich eine Auszeit von seinem Arbeitgeber nimmt, um Baerbock jetzt im Wahlkampf zu unterstützen. Laut Bundesgeschäftsstelle soll er Baerbocks Wahlkampf "eng begleiten" und ihre Wahlkampftour leiten.

Die Entscheidung dazu war schon Wochen zuvor gefallen, noch bevor Baerbock im April zur Kanzlerkandidatin nominiert wurde. Trotz der PR-Profis im Hintergrund ist es zu Fehlern wie den falschen Angaben im Lebenslauf gekommen. Das hat Glaubwürdigkeit gekostet.

Auch der alte Skandal um die Parteigelder dürfte bei der Kampagne in den nächsten Monaten wenig hilfreich sein. Das gilt umso mehr, weil es in Brandenburg ehemalige Wegbegleiter Baerbocks gibt, die sich an die Ereignisse erinnern. Einer von ihnen ist der Bausachverständige Andreas Menzel, der früher die Grünen als Stadtverordneter in Potsdam vertreten hat. Jetzt engagiert er sich für die Freien Wähler.

Es ist ein sonniger Junitag, er sitzt auf der Terrasse seines Reihenhauses in Groß-Glienicke, auf dem Tisch liegen Dokumente, die zeigen, wie die heutige Galionsfigur der Grünen damals agiert hat. "Die Strategie war ganz klar, der Landesverband hat sich als hilfloses Opfer eines systematisch vorgehenden Betrügers dargestellt."

Nicht transparent kommuniziert

Menzel sagt, diese Legende sei durch die Gerichtsverhandlung erschüttert worden. Er kritisiert, dass die Parteiführung die Vorfälle nicht ausreichend transparent kommuniziert habe. Er selbst habe sich deshalb an den Bundestag gewendet und auf Aufklärung gedrungen.

Dies habe dazu geführt, dass die Partei ein kleines Strafgeld im vierstelligen Bereich habe entrichten müssen. "Danach wurde ich als ,Querulant' und als ,eigensinniger Individualist' beschimpft", sagt der Bauingenieur - was er rückblickend als Kompliment empfindet. Menzel hat mit seinen neuen Mitstreitern ein Video zu Baerbock und ihrer Zeit als Landeschefin gedreht, das jetzt ins Internet gestellt werden soll.

Der Bundesschatzmeister Marc Urbatsch bestätigt auf Nachfrage von WELT die Angabe zu dem Strafgeld und sagt, die Summe von 3701,78 Euro sei umgehend nach dem Erhalt des Bescheids am 4. Oktober 2016 von der Bundespartei bezahlt worden. Letztlich habe der Landesverband die Kosten übernommen.


Quelle: welt.de vom 26.06.2021