Kommentar Die USA lassen Afghanistan im Stich In Afghanistan droht eine Eskalation des Bürgerkriegs. Amerikaner und Europäer müssen weiter versuchen, die Taliban und Regierungsvertreter mit diplomatischem Druck und finanziellen Anreizen an den Verhandlungstisch zu bringen.

Andrea Spalinger 14.04.2021, 16.28 Uhr

Amerikanische Soldaten in Kabul. Bald werden die letzten von ihnen aus Afghanistan abziehen.
Mark Wilson / Getty

Joe Bidens Ankündigung eines vollständigen Truppenabzugs aus Afghanistan bis zum 11. September ist ein Eingeständnis des Scheiterns. Nach zwanzig Jahren ziehen sich die USA bedingungslos aus einem Krieg zurück, der über zwei Billionen Dollar an Steuergeldern und das Leben von 2400 amerikanischen Soldaten gekostet hat. Den verbündeten Nato-Staaten bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Abzug anzuschliessen. Jahrelang hatten sie gelobt, die Afghanen nicht im Stich zu lassen. Man werde erst abziehen, wenn die einheimischen Sicherheitskräfte stark genug seien, um das Land zu verteidigen, oder wenn ein Friedensabkommen unterzeichnet sei. Davon ist nun keine Rede mehr.

Leere Versprechen von Demokratie und Menschenrechten

Mit der Lage in Afghanistan hat der Entscheid wenig zu tun. Die Zahl der zivilen Opfer steigt mit jedem Monat, die Taliban kontrollieren mittlerweile über die Hälfte des Landes, und die Gespräche zwischen den Aufständischen und der Regierung kommen nicht vom Fleck. Ausschlaggebend für Präsident Biden waren die Befindlichkeiten an der Heimfront. Die Amerikaner sind kriegsmüde, und Afghanistan hat für sie keine strategische Priorität mehr, seit die Kaida weitgehend von dort vertrieben worden ist.

Biden argumentiert denn auch, das ursprüngliche Ziel des Einsatzes sei erreicht worden. Das Engagement des Westens am Hindukusch ging jedoch weit über die Terrorbekämpfung hinaus. Man versprach den Afghanen Demokratie und Menschenrechte. Mit dem Abzug werden die fragilen Errungenschaften bei der Staatenbildung nun ernsthaft gefährdet.

Der grösste Fehler der USA und anderer westlicher Akteure war, dass sie im Kampf gegen islamistische Extremisten auf fragwürdige Verbündete setzten, sprich auf korrupte alte Warlords, die für schwere Kriegsverbrechen verantwortlich sind und in ihren Provinzen wie Despoten herrschen. Indem die westlichen Regierungen solche Figuren finanziell unterstützten und an den Hebeln der Macht liessen, untergruben sie selbst den jungen demokratischen Staat. Denn nicht nur die Taliban, die weiterhin von einem islamistischen Emirat träumen, haben Mühe mit Frauenrechten und einer unabhängigen Zivilgesellschaft. Auch auf Regierungsseite und in den Reihen der politischen Opposition gibt es viele, die nichts von solchen Ideen halten.

Trump hat den Joker verspielt

Die Taliban werden nach dem westlichen Abzug nicht so leicht das ganze Land erobern können. Die staatlichen Institutionen und Sicherheitskräfte sind zwar schwach, mächtige Spieler im Norden und Westen des Landes rüsten sich aber mit ihren Milizen für eine Eskalation des Bürgerkriegs. Für die Bevölkerung wäre ein solcher mindestens so verheerend wie eine neue Taliban-Herrschaft. Nach jahrzehntelangem Krieg wünschen sich die Afghanen nichts sehnlicher als Frieden.

Die derzeit nur noch rund 10.000 ausländischen Soldaten in Afghanistan bilden vor allem afghanische Kollegen aus und sind nur noch vereinzelt an Kampfhandlungen beteiligt. Ihre Präsenz war längst nicht mehr kriegsentscheidend, aber ein wichtiges Druckmittel bei Verhandlungen mit den Taliban - bis Donald Trump diesen Joker im vergangenen Jahr für einen absurden Deal mit den Aufständischen aus der Hand gab.

Abhängig von internationaler Hilfe

Seither hatten die Taliban keinen Anreiz zu Konzessionen mehr. Sie haben die Verschiebung des Truppenabzugs vom 1. Mai auf den 11. September nun zwar scharf verurteilt, einen grossen Unterschied macht das für sie aber nicht. Die Nato-Mission ist mit der Ankündigung vom Mittwoch zu Ende; in den kommenden Monaten werden die Beteiligten fast nur noch mit der Logistik des Abzugs beschäftigt sein.

Es ist zu befürchten, dass mit der Rückkehr der Truppen auch das politische Interesse an Afghanistan schrumpfen wird. Wenn all die Mühen und Opfer der letzten zwanzig Jahre nicht vergebens gewesen sein sollen, müssten Amerikaner und Europäer jetzt aber erst recht ihre diplomatischen Bemühungen verstärken und den Friedensprozess mit grosszügigen finanziellen Anreizen am Leben erhalten. Afghanistan ist völlig von internationaler Hilfe abhängig. Das wissen alle Beteiligten, auch die Taliban. Die Islamisten wollen auch keinem Paria-Staat mehr vorstehen wie nach ihrer Machtübernahme 1996. Sie wollen international anerkannt werden. Das heisst, es gäbe durchaus noch Raum für Verhandlungen.


Quelle: NZZ vom 14.04.2021