Donnerstag, 24.10.2019
Haben Sie sich schon zum Fall Handke geäußert? Ist wirklich schon alles gesagt? Oder, um eine ernste Frage aus einem online veröffentlichten SPIEGEL-Streitgespräch zu zitieren: "Stößt es Dich ab, wenn ich weiter Handke lese?"
Ergänzende Frage: Wissen Sie, wer im Jahr 2005 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, weil er "das Vorzüglichste in idealistischer Richtung" geschaffen habe, wie es der Preisstifter vorschrieb? Und wenn ja: Was sagte der Preisträger Pinter über den Prozess gegen Slobodan Milosevic? Über Tony Blair? Über den Kampf der von Joseph Fischers guten Wünschen begleiteten deutschen Bundeswehr im Kosovokrieg oder, geführt von Scharping, Struck, Jung, zu Guttenberg, de Maizière und von der Leyen, im Afghanistankrieg?
Leider war im ersten Fall keine Zeit, sich ein UN-Mandat zu besorgen, weswegen der humanitäre Einsatz der Luftwaffe halt ohne gehen musste. Der zweite Krieg beruhte darauf, dass der Nato-Bündnisfall eingetreten war, weil die Attentäter von New York von in Afghanistan regierenden "Taliban" unterstützt wurden. Insofern war es ein juristischer Schönheitsfehler, dass der Commander-in-Chief im Februar 2002 anordnete, die Taliban nicht als Kombattanten zu betrachten, sondern als Banditen. Daher galt das Kriegsvölkerrecht nicht, was bis heute den Betrieb des exterritorialen Untersuchungs- und Gefährdergefängnisses Guantanamo ermöglicht. Das ist, wie man weiß, seit 18 Jahren "umstritten", hält sich also stabil im Nebelbereich der Uneingeschränktheit.
Einzelheiten können wir dahinstehen lassen. Harold Pinter ist nur ein englischer Nobelpreisträger, im Gegensatz zu den deutschen oder praktisch deutschen, zum Beispiel Peter Handke aus Kärnten, über den und seine zur Verteidigung Deutschlands an den Alpen eingerückten deutschen Väter sich bei Wikipedia einige rührende biografische Notizen finden, einschließlich einer "im Morgengrauen mit der Bahn" durchgeführten Reise von Berlin heim nach Kärnten anno domini 1948. Eine Reise, der, wie man weiß, noch viele folgen sollten, bis hin an die Flüsse Donau, Drina und so weiter.
Griffen in Kärnten liegt von München übrigens so weit entfernt wie Düsseldorf von Den Haag, wo die Verantwortlichen dafür walten, dass einst 350 bosnische Jungen und Männer von niederländischen Soldaten an serbische Bürgerkriegstruppen ausgeliefert wurden, die sie dann vorhersehbar massakrierten. Dem deutschen Urlaubsdrang nach Zeeland hat das keinen Abbruch getan. Möglicherweise fahren aber holländerkritische junge Westfalen inzwischen lieber nach Tibet als nach Middelburg zum Zelten, wer weiß?
Während also der deutschsprachige Nobelpreisträger doch eher bei den richtigen Deutschen eingeordnet wird, also sagen wir bei Hauptmann, Mann, Böll, Grass, schon aus Gründen der Unschuldsvermutung ehrenwerten Männern deutscher Zunge, als bei der zur Nervosität neigenden Dichterin Jelinek, kann der englische Herr Pinter der deutschen Schreibmoral egal sein. Im Fall Hauptmann freilich könnten allfällige kolumnistische Enthüllungen zur mutmaßlichen Traumatisierung der blutjungen Schauspielerin Ida Orloff noch eine zumindest moralische Aberkennung erforderlich machen.
Wir sind damit bei der schwierigen Frage gelandet, ob es bei der Handke-Frage um Literaturkritik, Preiskomiteekritik, Schwedenkritik oder Paulskirchenkritik geht. Die Schwedenkritik könnte sich jedenfalls aus zwei Quellen speisen: der frechen Nichtverleihung des Friedensnobelpreises an eine Seglerin sowie dem problematischen Verhältnis der schwedischen Literatur zu Südseekönigen. Für die Preiskomiteekritik spricht, dass, wie uns hier kürzlich eine Kolumnistin in Erinnerung rief, einmal "dem Ehemann eines seiner früheren Mitglieder Belästigung und Vergewaltigung vorgeworfen wurde". Paulskirchenkritik ist angesichts der öligen Sprachblasen, die dort übers Jahr ausgestoßen werden, wohlfeil; im aktuellen Fall kann sie sich sogar auf eine mediale Auszählung des Klatschverhaltens anlässlich der Preisrede eines preisgekrönten Hamburger Dichters stützen.
Jedenfalls waren wir mit diesem Handke deutscher Zunge sozusagen praktisch Papst. Das ist einerseits sehr schön, andererseits wieder schwierig, denn hierzulande sieht man die Moral zwar bei alpenländischen Dichterfürsten und -fürstinnen gemeinhin als eine den berufstypischen Abgründen untergeordnete Schrulle an (siehe Bachmann, Bernhard, Kraus, Musil), hält sie aber beim genuin deutschen Literaten für den eingeborenen Quell jeglicher legitimen künstlerischen Sprachform. Als Kärntner mit zwei deutschen Vätern zum frankophilen Deutschzüngler ernannt zu werden, ist also ein - wir bleiben in der Scheckschen Metaphorik - gespaltenes Schwert: Die Moral, die Moral die Moral!
Hat der Landsmann vor 30 Jahren seine Freundin geschlagen? Die Frage führt uns mit einer Kreuzberger Kolumnistin in schwere See: "Wie soll man mit Filmen umgehen, deren Hauptdarsteller seine Partnerin geschlagen hat? Oder mit Musik, bei der man davon ausgehen kann, dass der Sänger Kinder missbraucht hat?" Grausame Fragen, die dem unbedacht moralfreien Kunstfreund die eiserne Maske der Gutherzigkeit aufs Gesicht pressen! Am Ende: Wie soll man überhaupt "mit Filmen umgehen"? Hat sich Isabelle Huppert schon für "Coup de Torchon" entschuldigt? Haben Rosel Zech und Jane Mansfield einmal einen Schwulen sexistisch beleidigt? Und woran erkennt man Musik, "bei der man davon ausgehen kann", dass die Quinten vergiftet, die Triolen infiziert, die Riffs rassistisch oder gar die Rhythmik antifeministisch sind? Wie geht es überhaupt, wenn man bei Musik davon ausgeht?
"Sollte jemand, der mit Kriegsverbrechern sympathisiert, einen Nobelpreis bekommen?", fragt die Kolumnistin. Sie meint damit natürlich nicht das Verhältnis zwischen dem Preisträger Kipling und dem Brigadegeneral Reginald Dyer, auch nicht das zwischen dem Preisträger Churchill und dem Marshal of the Royal Airforce Arthur Harris. Beide gehen uns nichts an. Gemeint ist die Sympathie Handkes für Slobodan Milosevic. Das ist natürlich eine gute Frage, vor allem in einem Land, in dem schon so mancher Künstler auf 50 langen Jahren goldener Amnesie entschwebt ist. Andererseits könnte man einwenden, dass man sich vielleicht zunächst um die Preise der Kriegsverbrecher als um die Preise derjenigen kümmern sollte, bei denen man vom Verbrechen der Sympathie ausgehen muss.
Die kleine Differenzierung zwischen Kriegsverbrechern und solchen, die (mit ihnen) "sympathisieren", sollte uns moralisch Einwandfreien ein kurzes Innehalten wert sein. Kennen wir in unserer Umgebung Personen, die einmal mit Kriegs- oder sonstigen Verbrechern, Bürgerkriegsanführern, Massakerverantwortlichen sympathisiert haben? Gibt es aktuelle oder verflossene Stalin-, Mao-, Pol Pot-, Rommel-, Ludendorff- Sympathien im erweiterten Familienkreis oder vielleicht im eigenen lieben Tagebuch? Am leichtesten geht das, wenn man sich von Anfang an mit den Sachproblemen der Welt nicht allzu sehr befasst und sich gleich aufs Wesentliche konzentriert, also auf eine lösungsmittelfreie Moral. Keine Angst, ich will natürlich nicht das furchtbare Gedankenverbrechen des "Relativierens" begehen oder Sie dazu anstiften! Ich möchte nur einmal vorsichtig daran erinnern, dass zwischen einem Verbrecher und einem Sympathisanten in der wirklichen Welt ein gewisser Unterschied besteht.
Sie werden möglicherweise einwenden, dass das Vorstehende, entgegen der Ankündigung, fast gar nichts mit Literatur zu tun habe. Das ist vollkommen richtig beobachtet und muss auch so sein. Es ist nämlich das Kennzeichen jeder anständigen deutschen Debatte, dass sie Inhalte, die zu konkreten Anstrengungen führen könnten, nach Kräften vermeidet und sich möglichst rasch auf Sekundär- und Tertiärdebatten über Formen und Stile konzentriert: Sprachstile, Denkstile, Metaphernstile, Lebensstile. Denken Sie sich eine ganz normale Intellektuelle, oder einen Absolventen eines kulturtheoretischen Studiengangs. Solch eine Person hat ja überhaupt keine Zeit, sich mit Inhalten der Wirklichkeit ernsthaft und ausdauernd zu befassen! Die Tage sind ausgefüllt mit der Optimierung des Gefühls davon, wie es wohl wäre, wenn man es täte. Daher muss auch die politische Kritik konsequent auf den Kern des Lebensstils reduziert werden.
Das hat einerseits Nachteile. Der wichtigste ist, dass durch Stile und Gefühle keines der Probleme gelöst wird, mit denen sie sich angeblich befassen, ja dass diese oft nicht einmal sinnvoll formuliert werden können. Drei Beispiele kurz erwähnt: Migration, Klima, Ostdeutschland.
Die aktuelle Kriegslage in Nordsyrien offenbart nicht allein das Fehlen substanzieller deutscher Außenpolitik mit Ausnahme der üblichen Verkaufsreisen. Sie zeigt auch, dass es mit der angeblich seit Jahren wichtigen Migrations- und Flüchtlings-Diskussion nicht weit her ist. Sie hat sich in sinnfreie Moral-Diskussionen verflüchtigt. Von der floskelhaften "Bekämpfung von Fluchtursachen" ist weit und breit nichts zu sehen, und das gute Gewissen, das die irrationale Problemverweigerung den hierzulande Bessergestellten auf Kosten der Verlierer verschafft, wird damit erkauft, dass Herr Erdogan und die Milizen in Libyen dafür bezahlt werden, den guten Menschen von Berlin 95 Prozent der Probleme vom Hals zu halten, und zwar zu jedem beliebigen Preis an Mensch und Material.
Das Weltklima, Grönland und den Regenwald retten die Deutschen zurzeit durch die feste Überzeugung, ein jeder möge etwas dazutun. Außerdem müssen alle schwören, den Klimawandel nicht zu leugnen, und sich ein Alufahrrad mit Lithium-Ionen-Batterie kaufen. Wenn das alle Menschen auf der ganzen Welt machen, könnte es klappen mit der schönen Welt für die "nachfolgenden Generationen", die uns am Herzen liegen. Es ist allerdings, zurückhaltend ausgedrückt, über alle Maßen unwahrscheinlich, dass fünf von sieben oder acht von zehn Milliarden Menschen in den nächsten 100 Jahren beschließen werden, dass sie lieber keine Flachbildschirme, 35-Stunden-Wochen, E-Automobile, Hochgeschwindigkeitszüge, Klimaanlagen und Convenience-Food-Produkte haben möchten, damit es den armen Menschen in Westeuropa in 200 Jahren gelingt, Hamburg und Amsterdam überschwemmungsfrei zu halten. Mindestens ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die mächtigen Akteure des überaus erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaftssystem beschließen werden, es sei an der Zeit, die Reichtümer der Welt gerecht unter alle guten Menschen aufzuteilen, auf dass ein Gleichgewicht herrsche zwischen Himmel und Erde, Mensch und Tier, reich und sehr reich. Vielmehr scheint es, wenn man die bisher vergangene Geschichte der Zivilisation betrachtet, naheliegend anzunehmen, dass es den reichen 10 Prozent auf das Überleben der armen 90 Prozent im Zweifel auch weiterhin nicht ankommen wird. Dieses Problem wird sich durch Verzicht auf Zweitwagen und Palmöl nicht lösen lassen.
Etwas übersichtlicher: Nach wochenlangen Gefühlsorgien zum Thema "Dreißig Jahre 40. Jahrestag der DDR" ist man erschöpft. Es fällt mir im Moment kein Gefühl ein, zu dem der Ossi in uns allen nicht befragt, interviewt und portraitiert wurde. Gewaltig sind der Jammer über das Jammern, das Klagen über das Klagen, die Sorgen über die Sorgen. Den Talk-Gästen gingen schier die Worte aus, den 40-jährigen Moderatorinnen die Wende-Erinnerungen, aus dunklen Ecken kamen Wolf Biermann und die junge Angela, und Frau Thalbach sprach zu uns. Ossis der Herzen hatten wieder ganz starke Gefühle, aber absolut keinen Plan. Und kein Bundespräsident wanderte auf dem Rennsteig und winkte von der Höhe herab.
Wo auf Dauer so offenkundige Nachteile toleriert werden, muss auch ein Vorteil verborgen sein. Er ist in diesem Fall nicht schwer zu finden: Es ist die historisch fast einmalige, jahrzehntelange Möglichkeit, sich unter höchster Aufwendung von Moral vollständig verantwortungsfrei zu halten. Außer ein paar wirklich sehr kleinen Fehlern in Kunduz, Wolfsburg und Wandlitz hat Deutschland seit 70 Jahren eigentlich nichts getan, was man als "Tun" bezeichnen könnte. Wie es mit dem Unterlassen aussieht, lassen wir mal dahinstehen. Es gibt kein Volk auf der weiten Welt, das so oft, so gern und so überzeugt auf der jeweils richtigen Seite steht. Wir waren für Kennedy und für Gorbatschow, für Lumumba und Che Guevara, auf jeden Fall für den Frieden, und gegen jeden Krieg außer unseren eigenen. Wir haben die Weltrevolution von 1968 ganz alleine durchgeführt, die Chilenen, afghanischen Mädchen und People of Color befreit, die Frau sowieso, die Apartheid abgeschafft, den Dalai Lama geehrt, die Atomkraftwerke und die Mittelstreckenraketen verschrottet. Wir haben mit der Kraft der Herzen die Stasi besiegt, ganz allein die schreckliche Flüchtlingskrise bewältigt und ab 1989 das ärmste und zurückgebliebenste Land des ganzen Ostblocks wieder aufgebaut. Und da wir das alles freiwillig gemacht haben, kostenlos und aus gutem Willen, sind wir für nichts verantwortlich, was durch die Fehler irgendwelcher moralischer Versager angerichtet wurde. Wir wissen alles und sagen es gern, wenn wir gefragt werden. Aber wir drängen uns nicht auf. Wir sind riesengroß, aber bescheiden. Wann immer auf der Welt ein wirklich großes Problem sich stellt, fragt man zuerst beim Schöppenstuhl in Berlin: Ihr hohen Herren, sagt uns Schlechten / Wie halt' wir es gemäß dem Rechten? Unsere Hauptstadt ist wie wir: unklar, zusammengesetzt, aufgepumpt mit kleiner Sortierung. Höchste moralische Expertise aus höchstmöglicher Feigheit:
Gute Kunst ist die Kunst guter Menschen. Darf man singen, wenn man einer Sopranistin an die Brust gefasst hat? Darf man Bundespräsident oder Bundeskanzler sein, wenn man Mitglied der NSDAP war? Darf man Putenfleisch essen? Darf man Bundesminister sein, wenn man wegen Schuldunfähigkeit beim Meineid nicht vorbestraft ist? Darf man arabische Rapper für Vollidioten halten? Es ist ein Jammer, und dieser Handke hat überhaupt kein Mitleid mit uns, sondern schmeißt uns raus, gibt schreckliche Interviews im "Freitag" und lässt ausrichten, die Kreuzberger könnten ihn am Arsch lecken.
Donald Trump, ein Moral-Gigant, erklärte kürzlich dem jubelnden Volk, die einzige Befähigung des ehemaligen Vizepräsidenten sei es gewesen, "Obamas Arsch zu küssen". Kurz darauf bezeichnete der Kabarettist Becker aus Köln ihn in einer Talkshow als "Arschloch", weil er die Kurden verrate. Diese unschuldige Szene wurde in der deutschen Presse als "völliges Ausrasten" beschrieben; das schlimme Wort konnte nur als "A..." zitiert werden. Es ist zu bezweifeln, dass es zu schrecklich war für die Rap-gestählten Ohren sensibler deutscher Menschen. Wahrscheinlicher ist es, dass diesen eine furchtbare Angst in die Tastaturen fuhr: Wird am Ende Botschafter Grenell Strafzölle gegen Laugenbrezeln verhängen?
Zur Lösung entbrannte ein Streit über das angemessene Maischberger-Maß der Sprachmoral; damit war das Syrien-Problem angemessen gelöst. Am Ende wird ein Kolumnist schreiben, es sei alles eine Frage der Digitalisierung; ein zweiter wird schreiben, den ersten habe er schon immer lächerlich gefunden; und eine Handke-Expertin wird hinzufügen, unter moralischem Blickwinkel sei es sehr bedenklich, dass der dichtende Kärtner sich noch nicht zum Sexismusverdacht gegen den Ehemann einer früheren Nobelkomitesse geäußert habe. Liebe Literaturfreunde, wir bleiben dran!