Sanktionsexperte Winkler "Die Mehrheit auf der Welt teilt nicht unsere Werte. Das ist, was immer vergessen wird"

Von Eduard Steiner

Stand: 07.03.2025 Lesedauer: 10 Minuten

Der Anwalt Viktor Winkler berät weltweit Regierungen und Konzerne beim Thema Russland-Sanktionen. An den aktuellen Auflagen äußert er im Interview akute rechtliche Bedenken. Das Vorgehen von Ursula von der Leyen sei "völlig planlos". Es werde der EU am meisten selbst schaden.

Viktor Winkler gilt als einer der führenden Juristen, wenn es um Sanktionsfragen geht
Quelle: HHM

Zigtausende Sanktionen gegen Russland konnten den Krieg in der Ukraine bisher nicht stoppen. Haben sie also noch einen Sinn? Der führende deutsche Sanktionsexperte Viktor Winkler zweifelt zumindest an der Umsetzung und sieht juristische Grundsätze der Westen verletzt. Warum er die italienischen Mafiajäger so schätzt - und wie er eine Gleichstellung von Putin mit Hitler sieht.

WELT: Drei Jahre Sanktionen haben den Ukrainekrieg nicht gestoppt. Nun haben die USA die Sanktionen trotzdem verlängert und die EU hat neue verhängt. Was hat das noch für einen Sinn?

Viktor Winkler: Die Frage ist berechtigt, denn die Idee der Sanktionen war ja, Druck auszuüben. Mit Donald Trumps anderen, wohlwollenden Vorstößen Richtung Russland aber steht Wladimir Putin endgültig nicht mehr mit dem Rücken zur Wand, sondern kann verhandeln. Damit steht der Sinn neuer Sanktionen nicht nur politisch, sondern auch rechtlich infrage. Die Sanktionen gehen nun noch mehr ins Leere. Keines der drei formulierten Sanktionsziele, nämlich den Krieg zu stoppen, die russische Wirtschaft zu schädigen und einen Geldzufluss nach Russland zu verhindern, wurde nachhaltig erreicht.

WELT: Aber dass die EU über 200 Milliarden Euro an Geldern der russischen Zentralbank eingefroren hat, ist nicht wenig ...

Winkler: Das ist in der Tat kein Pappenstiel, das spürt Russland. Aber rechtlich bleibt die Debatte, ob man mit den Sanktionen die Wirtschaft als solche überhaupt hätte angreifen dürfen. Die EU hat ja leider selbst ausdrücklich gesagt, das Hauptziel sei die Schwächung der russischen Wirtschaft.

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WELT: Es ist ja wohl legitim, mit einer intendierten Schwächung der Wirtschaft indirekt den Krieg zu erschweren oder zu stoppen.

Winkler: Moralisch und politisch mag es richtig sein. Aber vor 2022 gab es einen Konsens in der Völkerrechtswissenschaft darüber, dass es nicht zulässig ist, mit Sanktionen eine fremde Wirtschaft als solche anzugreifen, erst recht nicht mit unilateralen Sanktionen. Und der Grund liegt natürlich auf der Hand. Denn wenn jeder Staat über Sanktionen die Wirtschaft eines anderen Staates offen und gezielt schwächen darf, sind alle Schleusen geöffnet. Ich halte das für einen der bedenklichsten Aspekte überhaupt an diesen 16 EU-Sanktionspaketen.

WELT: Was ist noch bedenklich?

Winkler: Vor dem Ukrainekrieg gab es in der Völkerrechtswissenschaft einen Konsens darüber, dass sogenannte unilaterale Sanktionen gar nicht zulässig sind, sondern dass sie von der UNO kommen müssen. Denn einerseits hätte man dadurch mehr Effizienz, weil die UN-Vertragsstaaten zur Umsetzung verpflichtet wären, was bei den jetzigen unilateralen Sanktionen ja nicht der Fall ist, weshalb Russland über China und Indien zu immens viel Geld kommt. Und andererseits sind Sanktionen ein so massiver Eingriff des Staates, dass man das früher lieber der UNO überlassen hatte. In der Wissenschaft bezeichnet man Sanktionen nicht von ungefähr als ein Mittel moderner Kriegsführung.

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WELT: In der UNO wären keine Sanktionen durchzusetzen gewesen. Da ist es im Fall eines Angriffskrieges wohl legitim für die USA oder die EU, als Ultima Ratio zu Sanktionen zu greifen, wenn man keine militärische Konfrontation will.

Winkler: Als Ultima Ratio war und ist es immer erlaubt, ja. Aber dafür muss der Völkerrechtsverstoß eine Schwere am äußersten Rand des Spektrums erreichen, um diese größten jemals erlassenen Sanktionen zu rechtfertigen.

WELT: Und das soll bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht der Fall sein?

Winkler: Das Völkerrecht entstand als Reaktion auf den Holocaust der Nazis. Das schlimmste Verbrechen sind völkerrechtlich also Holocaust und Völkermord wie in Ruanda, wo der Westen ein Totalembargo hätte verhängen können, aber nichts gemacht hat. So gravierend die Kriegsverbrechen der Russen sein mögen: Wir sind sanktionsrechtlich weit davon entfernt, das Prinzip der Ultima Ratio anwenden zu können. Und noch etwas: Das Hauptproblem der Russlandsanktionen ist die Verhältnismäßigkeit.

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WELT: Die Sie nicht gewahrt sehen?

Winkler: Nein. Rechtsstaatlich besagt die Verhältnismäßigkeit unter anderem, dass Sie aufhören müssen, wenn es nicht funktioniert. Und: Sie könnten die Sanktionen nur ausweiten, wenn der Völkerrechtsverstoß immer schlimmer wird. Aber in Wirklichkeit ist er derselbe wie vor drei Jahren, und die Sanktionen werden trotzdem ausgeweitet, und das zudem ohne jegliche Ordnung oder Plan. Niemand kann erklären, warum dieses oder jenes Unternehmen bzw. diese oder jene Person plötzlich sanktioniert wird und nicht schon vor drei Jahren. Die Polizei könnte sich nicht erlauben, zuerst einmal 30 Wohnungen zu durchsuchen und dann ohne Begründung weitere zufällig ausgewählte 60.

WELT: Mit Donald Trumps Annäherung an Putin kommt die Frage von Sanktionslockerung oder -aufhebung auf. Bisherige Erfahrungen mit Sanktionen zeigen, dass es kaum jemals dazu gekommen ist. Warum nicht?

Winkler: Wir Sanktionsjuristen bemängeln seit 20 Jahren, dass bis auf wenige Ausnahmen Sanktionen nie aufgehoben wurden. Dabei ist rechtlich eigentlich klar, dass es sich um Gefahrenabwehrmaßnahmen handelt, also Maßnahmen, die nicht strafrechtlich sind. Deshalb ist der Eingriff ja so grundrechtsintensiv. Niemand wird durch Sanktionen bestraft. Sanktionierte Personen sind keine Straftäter. Auch russische Oligarchen sind im Sanktionsrecht keine Straftäter. Und europäische Unternehmer, die bis 2022 Russlandgeschäft hatten und es jetzt nicht mehr betreiben dürfen, sind auch kein Straftäter. Wenn also die Sanktionen nicht funktionieren oder ihre Gründe wegfallen, müssen die Sanktionen gelockert oder aufgehoben werden. Das ist eines der Kernerrungenschaften des Rechtsstaates: Dass Gefahrenabwehrmaßnahmen immer nur vorübergehenden Charakter haben. Wir nehmen das endlose und chaotische muntere Drauflossanktionieren leider als selbstverständlich hin. Und wir reden hier wohlgemerkt nicht von militärischen oder Dual-Use-Gütern, deren Ausfuhr ja schon vor dem Krieg genehmigungspflichtig war.

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WELT: Rechtsstaatlich wird die Debatte kaum geführt ...

Winkler: ... das ist ja das Problem. Die EU beschränkt die grundrechtlich geschützte Ausfuhrfreiheit vieler Unternehmer inzwischen so viel, wie es nur geht, ohne ein Totalembargo zu beschließen. Das ist das Eine. Und das Andere ist, dass das auch noch chaotisch und ohne Strategie passiert. Die Sanktionspolitik von Frau von der Leyen ist völlig planlos. Es gibt kein Argument, warum Gas erlaubt war, Öl vorher verboten wurde und Gas dann später ein bisschen. Es ist ein Chaos, das nur zusammengehalten wird durch die dilettantische und völkerrechtlich vollkommen unzulässige Suche danach, wie Russlands Wirtschaft irgendwie irgendwo ein Schaden zugefügt werden kann. Wenn dieser Zugang legitim wird, dann machen es bald alle so. Ich zweifle, dass das zu Frieden und Sicherheit in der Welt beiträgt. Am meisten wird es der EU selbst schaden. Denn die Mehrheit auf diesem Globus teilt nicht unsere Werte. Das ist das, was immer vergessen wird.

WELT: Aber wir sind doch längst in dieser Praxis drin.

Winkler: Nur so viel: Man muss mit dem Instrument der Sanktionen vorsichtiger umgehen. Und vorsichtig heißt nicht weniger. Die Frage ist, ob sie rational, ob sie gezielt sind und ob ein Grund beziehungsweise auch ein Plan dafür besteht und die Verhältnismäßigkeit gegeben ist. Verhältnismäßigkeit ist der Kern der Demokratie und sie ist grob vernachlässigt.

WELT: Doch es war legitim, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, den Völkerrechtsverstoß Russlands mit Sanktionen zu stoppen versucht zu haben. Wie hätte von der Leyen vorgehen sollen?

Winkler: Sie hätte gleich zu Beginn des Krieges mit Fachleuten, Ökonomen und Russland-Experten eruieren müssen, welche Industrien dem Kreml am meisten helfen, diesen Völkerrechtsverstoß fortzusetzen. Diese Industrien hätte man gezielt angreifen müssen. Und nach einem halben Jahr hätte man den Effekt evaluieren und dann neu entscheiden müssen: Braucht es mehr, braucht es andere Sanktionen? Das wäre Verhältnismäßigkeit. Aber Frau von der Leyen ist eine Politikerin, sie ist keine Sanktionsrechtlerin. Und so wurde nach Belieben nach und nach immer wieder etwas Neues verboten, denn das demonstriert scheinbare Handlungsfähigkeit. Und bei den Oligarchen hat man die Sanktionen nur selten ausreichend begründet, sondern meistens einfach eine Nähe zu Putin unterstellt. Aber diese Sanktionspolitik insgesamt ist sanktionsrechtlich kaum noch zu rechtfertigen, gerade so weit EU-Unternehmen und deren Grundrechte betroffen sind.

WELT: Die USA gehen allerdings auch nicht viel anders vor als die EU.

Winkler: Auch in den USA wurde eine solche Salami-Taktik angewendet, und Trump sieht jetzt offenbar gar keine Grenzen mehr, um Sanktionen in alle Richtungen zu verhängen.

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WELT: So gesehen hat man den Anfängen nicht gewehrt?

Winkler: Ich würde eher sagen: Es ist eine Gewöhnung eingetreten. Man hat in Teilen der Medien aber auch zwischen Putin und Hitler keinen Unterschied mehr gemacht. Und wenn Putin mit Hitler gleichgestellt wird, ist alles, was Putin macht, Holocaust und Völkermord. Ich will das politisch gar nicht bewerten, aber rechtlich ist die Begründung für den größten Sanktionskrieg aller Zeiten, den jemals ein Land gegen ein anderes Land begonnen hat, durchaus brüchig.

WELT: Die Öffentlichkeit, die Experten und Juristen könnten dagegenhalten ...

Winkler: ... es gibt einen einfachen Grund, warum sie es nicht tun und warum auch ich es lange nicht gemacht habe: Man möchte nicht Beifall aus der falschen Ecke bekommen.

WELT: Ein schwaches Argument.

Winkler: Das finde ich nicht. Denn jeder, der sich öffentlich äußert, hat auch eine politische Verantwortung. Die muss schon mit rein in die Abwägung. Irgendwann kippt die Abwägung aber dann zugunsten der nackten Fakten. Und die verlangen hier, dass die rechtlichen Probleme der Sanktionen nüchtern auf den Tisch kommen. Sonst bewegen wir uns in eine schwierige Lage. Ein Beispiel: Einer meiner Mandanten machte mit seinen Produkten, die nicht militärisch benutzt werden können, sehr viel Geschäft in Russland. Und nachdem die Produkte auf der Sanktionsliste gelandet waren, musste er Insolvenz anmelden. Das Unternehmen hätte einen Anspruch auf Entschädigung gegen den Staat gehabt. Aus Sorge vor der öffentlichen Meinung hat es sich aber nicht getraut, eine Entschädigung einzufordern.

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WELT: Die europäischen Unternehmen, die ohne Schuld durch Sanktionen geschädigt wurden, könnten also entschädigt werden?

Winkler: Sie müssten es sogar. Sie haben einen Anspruch auf eine Entschädigung, weil sie für uns alle als Gemeinschaft ein besonderes, außergewöhnliches Opfer erbringen, bisweilen bis zur Insolvenz. Man spricht juristisch von einem Sonderopfer.

WELT: Erwarten Sie hier Klagen seitens der Unternehmer?

Winkler: Kaum. Von den zahlreichen Mandanten, für die ich in den vergangenen drei Jahren diese Ansprüche geprüft habe und im Grundsatz bejahen konnte, haben alle eine Klage letztlich abgelehnt. Sie alle stehen auf der Seite der Ukraine und wollen nicht als Verräter erscheinen. Aber eigentlich agiert der Staat rechtswidrig, wenn er sie nicht entschädigt. Im Übrigen dürfen Sie nicht unterschätzen, welche immensen Kosten Unternehmen für Compliance zu tragen haben, um angesichts der Tausenden von Sanktionen keinen Verstoß zu begehen.

WELT: Wie hoch sind die Stundensätze für Sanktionsanwälte?

Winkler: Sie sind inzwischen tatsächlich mit die höchsten im juristischen Beratungsmarkt.

WELT: Abschließend noch eine andere Frage: Sanktionen werden massiv verhängt, aber bei der Umsetzung gibt es ja doch viele Mängel. Nehmen die Behörden selbst die Fülle an Sanktionen nicht ernst?

Winkler: Hier muss man differenzieren. Der magere Ertrag der Taskforces, die überall eingerichtet wurden, ist tatsächlich schwer zu rechtfertigen. Auf der Ebene der Polizei und Staatsanwaltschaft ist zu sagen, dass hier nicht der gute Wille fehlt, sondern häufig die Sachkenntnis im doch sehr speziellen Sanktionsbereich, weshalb es aktuellen Studien zufolge offenbar seit 2022 in ganz Europa gerade einmal etwa 2000 Ermittlungsverfahren und nur eine niedrige zweistellige Anzahl von Verurteilungen für Sanktionsverstöße gibt. Und da sind wir bei der dritten Ebene, nämlich der Öffentlichkeit, die es bei der Aufdeckung braucht. Was glauben Sie, wie viele Sachen erst durch Berichte von Journalisten aufkommen! Aber das führt längst nicht mehr zu einem Aufschrei, weshalb es auch selten Konsequenzen gibt.

WELT: Dann komme ich zur Ausgangsfrage zurück: Sollte sich die Öffentlichkeit mehr aufregen, oder sollte man eher die Sinnhaftigkeit der vielen Sanktionen hinterfragen?

Winkler: Ich bleibe dabei, was ich vor zwei Jahren als Sachverständiger im Bundestag gesagt habe: Wir brauchen in allen Mitgliedstaaten eine auf den Finanz- und Immobilienmarkt und vor allem auf verschachtelte Unternehmenskonstruktionen spezialisierte Sanktionspolizeibehörde so wie in Italien die Guardia di Finanza. Diese wurde gegründet, weil man Bedarf wegen der Mafia gesehen hatte. Auch bei der Ukraine gilt: Wenn uns die Angelegenheit das größte Sanktionspaket aller Zeiten wert ist, dann müssen wir dieses auch umsetzen.


Viktor Winkler, Rechtsanwalt aus Frankfurt, ist einer der wenigen ausgewiesenen Sanktionsexperten und Sachverständiger des Deutschen Bundestages zum Sanktionsdurchsetzungsgesetz. Zudem berät er weltweit Regierungen sowie Konzerne bezüglich Russlandsanktionen. Zuvor war der Jurist (Studium in Frankfurt und Harvard) langjähriger Rechtsanwalt in US- und UK-Großkanzleien sowie Compliance-Chef bei der Commerzbank.


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