Die Grünen: Bloß nichts riskieren

Eine Kolumne von Lenz Jacobsen

25. November 2020, 7:30 Uhr

Die einstige "Anti-Parteien-Partei" stimmt gegen bundesweite Volksentscheide: Die Grünen sind von demokratischen Unruhestiftern zu ängstlichen Verteidigern geworden.

Vierzig Jahre liegen zwischen dem ersten Programmparteitag der Grünen 1980 in Saarbrücken und ihrem jüngsten, am vergangenen Wochenende im Internet, rund um eine Berliner Sendezentrale. Die Wandlung, die die Partei in dieser Zeit durchgemacht hat, ist schon an den Äußerlichkeiten zu erkennen: Früher gab es chaotische Debatten fast bis zur Saalschlacht, heute hält die Parteivorsitzende Annalena Baerbock nach sanftem Streicher-Intro eine Rede im Weihnachtsansprachen-Sound. Und in den Pausen kuscheln sich Moderatoren und Parteivorsitzende in ein gemütliches Wohnzimmer, das die Partei ihnen hingestellt hat - bei den Grünen bin ich Mensch, hier darf ich's sein.

Man übersieht leicht, wie sehr dieser Wandel auch die Inhalte selbst betrifft, das Programm der Partei. Die Grünen haben sich auf ihrem Parteitag von der Forderung verabschiedet, bundesweite Volksentscheide einzuführen. Stattdessen sollen nun geloste Bürgerräte für mehr Mitsprache sorgen. Die Bürger dürfen beraten, aber nicht entscheiden. Damit vollziehen die Grünen eine Wende in ihrem Demokratieverständnis und ihrem Menschenbild, die sich schon lange abgezeichnet hat, aber deshalb nicht weniger gravierend ist: Aus Störern sind Verteidiger geworden.

Bitte draußen bleiben

h51>Früher wollten die Grünen mit der Wucht der Straße die verkrusteten Institutionen des Staates aufbrechen, die Demokratie demokratisieren. Heute wollen sie die demokratischen Institutionen gegen den vermeintlich bedrohlichen Volkswillen schützen. Um in der selbst gewählten Motivwelt des Parteitags zu bleiben: Ins Wohnzimmer der Macht kommt man bei den Grünen nur noch mit Einladung und guten Manieren. Die Störer sollen, jenseits der Wahlen, bitte draußen bleiben.

Wie drastisch dieser Wandel ist, zeigt ein Blick in die Grundsatzprogramme der vergangenen 40 Jahre. Diese Texte sind zwar für die Wähler und die Öffentlichkeit unwichtig, aber für das Selbstverständnis einer Partei, die oft jahrelang an jedem Halbsatz feilt, umso wichtiger.

Das Programm von 1993 beispielsweise verteufelt die "Zuschauerdemokratie" und "das verfassungswidrig angeeignete Monopol der Parteien auf politische Willensbildung". Im folgenden Grundsatzprogramm deutet sich 2002, nachdem die Grünen erstmals selbst im Bund mitregierten, die Wende an. Dort fragt man nun besorgt statt kämpferisch, "ob es den Parteien gelingt, sich für die Bürgerinnen und Bürger zu öffnen". Aber weiterhin wollen die Grünen die direkte Demokratie, "von der kommunalen bis zur Bundesebene, ausbauen".

Verstoß gegen den Konsens

Und heute? Hält der Parteivorsitzende Robert Habeck den Befürwortern der Volksentscheide vor, Populismus und Antiparlamentarismus zu befördern. Man dürfe dem Sound des "die da oben sind alle Verräter, das Volk weiß es besser" nicht nachgeben, erklärt Habeck. Volksentscheide würden polarisieren und spalten, statt den Diskurs zu fördern, sagt der Parteivorsitzende. Dabei war der Mut zum offenen Streit und der Verstoß gegen den (oft bequemen) politischen Konsens mal die Stärke der grünen "Anti-Parteien-Partei" (Gründerin Petra Kelly). Habeck glaubt, "der fromme Wunsch, dass die Abstimmung wohl informiert durch gelesene Gesetzestexte im Ausgleich des Diskurses erfolgt, ist in der Wirklichkeit nicht mehr vorstellbar". Ein solches Misstrauen gegenüber den Bürgern wäre gerade bei den Grünen früher schlicht unvorstellbar gewesen.

Wie gerecht sind Volksentscheide

All das heißt nicht, dass es keine guten Argumente gegen bundesweite Volksbegehren und Entscheide gibt. Die zwei berechtigtsten Sorgen sind, erstens: Für die Volksbegehren engagieren sich vor allem jene, die politisch sowieso schon viel mitreden, die Gebildeten und Etablierten. So bekommen diese relativ gesehen noch mehr Macht. Und zweitens: Bundesweite Abstimmungen funktionieren nur dann gut, wenn die Bürger die Verfahren schon seit Jahren oder Jahrzehnten von lokalen und regionalen Abstimmungen kennen, wenn die direkte Demokratie eingeübt ist. In Deutschland aber haben die meisten Bundesländer erst vor wenigen Jahren Volksbegehren und Abstimmungen erlaubt.

Bemerkenswert ist also nicht, dass es Gegner von bundesweiten Volksabstimmungen gibt. Sondern dass es jetzt ausgerechnet die Grünen sind, bei denen noch immer so viele Politik machen, die anders denken.

Die bayerische Landesvorsitzende Katharina Schulze beispielsweise appellierte auf dem Parteitag, ihre Partei solle "die Angst vor dem Wunsch des Mitmachens" überwinden. Gerald Häfner, der ehemalige rechts- und demokratiepolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, warnte vor "grüner Selbstamputation". Und Lukas Beckmann, einer der Parteigründer, forderte schon im Sommer in einem Brief an die Parteispitze, man solle "Bewegungspartei bleiben". Selbst Michael Kellner, der als Geschäftsführer im Bundesvorstand sitzt, sprach sich gegen den Entwurf der Parteispitze aus. Die Forderung nach mehr direkter Demokratie sei "ein Erbe der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung". Und: "Wahlen, und nicht die Volksentscheide, haben Rechte in die Parlamente gebracht."

Die Angst, dass die Falschen profitieren

Das nämlich ist die große Sorge der Spitzen-Grünen: dass Volksabstimmungen den Rechten und Populisten nutzen. Deshalb finden sie heute jene Mitbestimmungsinstrumente gefährlich, die ihre Partei lange für wünschenswert hielt. Die direktdemokratische Emanzipation war für sie nur so lange wünschenswert, wie sie nicht fürchteten, dass davon die Falschen profitieren.

Nun laufen die Grünen mit ihrer Bürgerräte-Forderung lieber Türen ein, die schon längst sperrangelweit offenstehen. Selbst der CDU-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble fungiert schon als Schirmherr eines neuen Bürgerrats. Diese gelosten Runden sind das neue Super-Tool im Demokratie-Werkzeugkasten, auf das sich eigentlich alle einigen können.

Man muss den Grünen ihre Wende nicht gleich als Scheinheiligkeit auslegen. Es ist schon in Ordnung, dass sie ihr Programm ändern, wenn sich die Umstände ändern. Der Staat ist heute ja tatsächlich, auch dank der Grünen, offener als vor 40 Jahren, das gesellschaftliche Klima sowieso. Da kann man sich schon mal dafür entscheiden, lieber das Erreichte zu verteidigen. Aber die Grünen müssen damit rechnen, dass sich alle, die noch Größeres vorhaben, anderweitig nach Verbündeten umschauen. Denn was sollen sie mit einer Partei, die jetzt auch in Sachen Mitbestimmung lieber nicht mehr viel riskiert.


Quelle: zeit.de vom 25.11.2020