Von Andrea Seibel
Autorin
Stand: 19.04.2021 04:21 Uhr | Lesedauer: 11 Minuten
Ayaan Hirsi Alis Stimme klingt angestrengt. Am Anfang ist nur im Hintergrund Kindergeschrei zu hören, doch dann wird es immer lauter, und am Ende wird das Zimmer gestürmt, in dem wir das Telefongespräch führen. "Das ist nicht fair", sagt die Autorin und wechselt den Raum.
Dann geht das Gespräch in Ruhe weiter. Sie spricht konzentriert und dezidiert. Es ist schön zu hören, dass eine Frau, die Genitalverstümmelung am eigenen Leib erleben musste und vor ihrer Familie nach Europa geflohen war, in Amerika letztendlich auch ihr persönliches Glück mit Mann und Sohn gefunden hat.
WELT: Sie waren selbst einmal Asylsuchende und Immigrantin. Seitdem Sie Anfang der 90er-Jahre Ihr neues Leben in den Niederlanden begannen, beobachten, analysieren und kommentieren Sie die Migration und ihre permanente Krise. Warum haben Sie es geschafft und so viele andere nicht?
Ayaan Hirsi Ali: Bei den Migranten und Asylsuchenden, die in westliche Länder kommen, erkenne ich vier verschiedene Typen: erstens die, die sich anpassen, so wie ich es auch getan habe. Und dann gibt es die, meist sind es junge Männer, die ich "die Bedrohung" nenne, die aus zerstörten Gesellschaften und Familien kommen und es einfach nicht schaffen. Die hier für viele Probleme sorgen.
Und dann gibt es die Fanatiker, die andere radikalisieren wollen. Als vierte Kategorie erkenne ich jene Menschen, die in die Sozialsysteme fallen und dort nicht mehr herauskommen. Wir, die Willigen und Angepassten, sind definitiv eine Minderheit, wenn es sich um Muslime handelt.
WELT: Sexuelle Gewalt und Unterdrückung von Frauen und Mädchen ist, so traurig wie wahr, immer noch ein globales Phänomen. Warum glauben Sie eigentlich, dass die muslimische Kultur schlimmer als andere ist?
Hirsi Ali: Ja, sexuelle Gewalt gegen Frauen ist ein Riesenproblem. Frauenfeindlichkeit ist verankert in allen unseren Kulturen, Frauen werden vielerorts viel geringer geschätzt als Männer. Daher ist die Frauenfeindlichkeit der islamischen Welt nicht einzigartig, aber abgrundtief und desaströs, denn sie macht das weibliche Geschlecht zur Ware, zum Ding, zur Beute.
All diese Gewalt ist erlaubt, ja gewollt. Die Gläubigen sollen denken, dass sie für dieses Tun auch noch belohnt werden. Diese Religion lebt gleichzeitig von einem Minderwertigkeitsgefühl und Exzeptionalismus, was Integration nicht gerade erleichtert.
WELT: Seit der großen Flüchtlingsbewegung von 2015 ist, wenn auch nur verdruckst, von einer Zunahme der Vergewaltigungen, Morde und sexueller Belästigung durch junge Migranten die Rede. Wo sind Ihre Belege und Erklärungen?
Hirsi Ali: 80 bis 90 Prozent der Sexualdelikte in Schweden oder Deutschland werden nicht angezeigt, aus Scham oder weil die Frauen resignieren. Und dennoch kann man zum Beispiel in Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Dänemark eine verblüffende Zunahme von Vergewaltigungsdelikten seit der Flüchtlingswelle erkennen. Das belegen die nationalen Kriminalitätsstatistiken.
In einigen Herkunftsländern ist Gewalt die Norm, die Menschen leben in einem Umfeld, in dem jegliche Ordnung, auch durch Kriege, zusammengebrochen ist. In anderen Ländern wird aus religiösen Gründen Gewalt gegen Frauen für gut geheißen, jedenfalls nicht ohne Weiteres sanktioniert.
Und ein Gutteil ist auch einfach kriminellem Verhalten der Flüchtlinge geschuldet, das sich durch nichts entschuldigen oder rechtfertigen lässt, nicht mit einem "Kulturschock", nicht mit Diskriminierung. Dies alles hat sich unglücklicherweise durch den großen Zustrom an Flüchtlingen aus Nahost, Afrika und Südasien verstärkt.
WELT: Sie haben mehr als zwei Jahre lang mit einem akademischen Helferinnenteam Statistiken, Polizeiberichte und Gerichtsakten Europas studiert, haben Umfragen und Untersuchungen zusammengestellt - um zu erkennen, dass es kaum brauchbares Material über Ethnie, Migration und Kriminalität gibt. Sie seien in ein "Kaninchenloch" gefallen, schreiben Sie. Wie erklären Sie sich diesen Umstand?
Hirsi Ali: Es scheint ein Reflex der Verdrängung und des Verbergens am Werk. Juristen bringen kulturelle Argumente, um Täter zu entlasten, weil sie betrunken waren oder unter Drogen standen. Oft argumentieren Angeklagte auch, sie würden die Gesetze nicht kennen: "Niemand hat mir gesagt, dass man das nicht darf."
Selten führt ein Sexualdelikt zur Abschiebung. Man macht eher europäischen Frauen den Vorwurf, selbst schuld zu sein! Man rät ihnen, sich in der Nähe von Flüchtlingsheimen nicht aufreizend anzuziehen, nicht allein zu joggen, nicht mehr in bestimmte Viertel zu gehen, um ja nicht zu provozieren. Und schon gar nicht bei Nacht.
Immer geht es um den Körper der Frau, er wird zum Grapsch-Ort, zur Beute. Das ist "victim blaming"! Manchmal gibt es zwar kontroverse Diskussionen in der Öffentlichkeit, aber wenn es um den Islam geht, wird alles schnell unterbunden, selbst betroffene Frauen winden sich, wollen nicht als ausländerfeindlich gelten.
Viele Akademiker haben regelrecht Angst, sich in ernsthaften Studien damit zu befassen, denn die hätten kaum Chancen auf Gehör. Ich habe mehrere solche Fälle erlebt, wo Forscher ihren Job verloren haben und sozial geächtet wurden. Man will keine negativen Aussagen und auch nicht darüber nachdenken, welche unvorhergesehenen Fehlentwicklungen durch das meiner Meinung nach nicht mehr zeitgemäße Asylrecht eingetreten sind.
WELT: Dazu passt, dass Sie akribisch aus allen Teilen Europas Berichte über Frauen zusammengetragen haben, die im öffentlichen Raum, im Nahverkehr, in Schwimmbädern, auf Festivals oder in ihren Stadtteilen belästigt wurden. Sie konstatieren, dass Frauen teilweise resignierten, so wie Juden in der Öffentlichkeit nicht mehr ihre Kippa tragen, um nicht aufzufallen. Warum gibt es in Zeiten von #MeToo keinen feministischen Aufschrei?
Hirsi Ali: Wir leben in einer Zeit der Identitätspolitik, und Flüchtlinge werden nur als bedauernswerte Opfer wahrgenommen. Und Opfer, so die geläufige Meinung, können nicht für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden. Der zweite Grund, warum wir keinen Aufschrei hören, ist, dass jene Frauen, die von #MeToo berührt sind, sich auf Themen wie Quoten in Führungspositionen und in der Politik konzentrieren. Sie wollen die Glasdecke zur Macht durchstoßen.
Frauen in prekären Situationen, mit niedrigem Einkommen und mit geringer Bildung werden einfach ignoriert, auch die Flüchtlingsfrauen, die keine Öffentlichkeit, keine Sprache und noch weniger Chancen haben.
Es ist diesem elitären Blick, sprechen wir ruhig von Klassenverhalten, geschuldet, dass so viel Schweigen herrscht. Viele dieser jungen Feministinnen sollten im Laufe ihres Studiums, statt zu gendern, mal ein Praktikum in Somalia, im Iran oder in Afghanistan absolvieren, um am eigenen Leib zu erfahren, was es dort heißt, "nur" eine Frau zu sein. Feminismus muss andere Kulturen kritisieren, statt zu relativieren.
WELT: Nach der Albtraum-Nacht auf der Kölner Domplatte Silvester 2015/2016 wurden 1304 Fälle angezeigt, es gab 290 Ermittlungsverfahren, 52 Anklagen, 32 Verurteilungen, davon nur drei wegen Sexualstraftaten, weil die Täter sich gefilmt hatten. Unsere Gerichte, die Medien und auch die Polizei behandeln alles weiter als bedauerliche Einzelfälle. Ist das angemessen?
Hirsi Ali: Das zeigt eher, wie unbedarft die demokratischen Institutionen auf diese neue Realität der Massenmigration reagieren. Gerichte urteilen zu milde, das Jugendstrafrecht verschleiert viel, Europa schiebt nicht ab, die illegale Migration nimmt zu und damit der Kontrollverlust. Und natürlich wehrt sich auch die Krisenbewältigungsindustrie gegen jegliche Infragestellung ihres Tuns.
Die Antwort, die man mir gab, war die: Es gäbe so etwas wie eine Schuld, ein Schuldgefühl. Die Europäer schämten sich ihrer Vergangenheit, besonders die Deutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus. In England und Frankreich sind es die Untaten des Kolonialismus. Es gibt diesen Unwillen, über die Untiefen der Einwanderung zu sprechen. Es herrscht ein Nicht-wahrhaben-Wollen der Probleme vor.
WELT: In Stadtteile, in denen allemal schon viele Minderheiten leben, kommen gern auch andere hinzu. Man schafft sich eine vertraute neue Heimat, schottet sich aber auch zugleich ab. Die Berührungen mit der Mehrheitsgesellschaft werden weniger. Was halten Sie vom Vorstoß der dänischen Ministerpräsidentin, mehr als 30 Prozent Migrantenanteil in einem Stadtteil zu verhindern?
Hirsi Ali: Selbst 30 Prozent sind zu viel. Als ich noch in den Niederlanden lebte, haben wir viel diskutiert über das Phänomen der Verteilung in Vierteln, Städten, auch über das Land. Aber wenn man das tun will, also eine Art Gentrifizierung und "social engineering" vornehmen will, wo es längst schon Gettos gibt, braucht man die Zustimmung der Menschen, die man hin und her schiebt. Und man braucht einen politischen Willen und enorme Anstrengung, um hier etwas zu bewegen. Das haben wir damals nicht hinbekommen. Und heute ist es noch unwahrscheinlicher.
WELT: Die Menschen akzeptieren Migration so lange, wie sie das Gefühl haben, dass die Politik die Kontrolle hat. An welchem Punkt stehen wir jetzt, und birgt Ihre alarmistische Sicht nicht das Dilemma, den Falschen zu dienen, nämlich rechten Populisten?
Hirsi Ali: Der erste Teil stimmt total. Das ist genau meine Meinung. Die Menschen werden Einwanderung akzeptieren, wenn sie ihren Politikern vertrauen können, dass diese immer auch im Interesse der gesamten Gesellschaft handeln. Das ist die entscheidende Aussage.
Aber ich denke nicht, dass ich mit meiner Kritik an den Missständen der Einwanderung in Europa den Populisten zuarbeite, sondern es ist die Tabuisierung all dieser Probleme, die zu einer Stärkung der Extremisten in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Schweden führt.
Diesen Mechanismus muss man nur umdrehen: Die Politik muss endlich Klartext sprechen. Menschen bringen ihre Kultur mit, sie sind keine unbeschriebenen Blätter. Und ihre rückständige Einstellung verhindert einfach Fortschritt und Erfolg.
WELT: Betrachten Sie Muslime nicht zu einseitig als Versager, ja Täter?
Hirsi Ali: In allen entwickelten westlichen Gesellschaften, wo es große migrantische Gruppen gibt, schneiden Muslime am schlechtesten ab, was Integration, oder wie wir hier in den USA sagen, Assimilation, betrifft. Die Vietnamesen waren auch schlecht ausgebildet und konnten die Sprache nicht. Aber sie haben keine Mauer zu den Einheimischen errichtet.
Darüber hat mein Freund und Kollege Ruud Koopmans ein ganzes Buch geschrieben. Schauen Sie auf die Weltkarte. Der Mangel an Freiheit, an dem alle muslimischen Gesellschaften leiden, der Mangel an Emanzipation, an Wissen, die Zurückweisung der Moderne, all dies, sagt Koopmans, sieht man im Kleinen perpetuiert auch in den muslimischen Communitys Europas. Er verglich libanesische Christen mit libanesischen Muslimen in Australien. Die Christen passten sich an, die Muslime nicht.
Die Infrastruktur radikaler islamistischer Gruppen ist offenbar in Moscheen, Vereinen und im Alltag tiefer verankert und gefährlicher, als wir denken. Sie predigen, die Werte, die Normen und die Gesetze des Gastlandes nicht zu achten. Das haben viele westliche Gesellschaften zu lange zugelassen und lassen es sich heute noch gefallen.
WELT: Wie sähe für Sie eine vernünftige und sinnvolle Einwanderung aus, die unserem Menschenbild entspricht und nicht islamistischen Separatismus stärkt?
Hirsi Ali: Integration muss endlich begriffen werden als eine Anstrengung, die nicht nur das Erlernen der Sprache betrifft, sondern die Anerkennung der Werte von Freiheit, Würde, Toleranz und Respekt bedeutet, die Zuneigung zu den Ländern, in denen man leben will, natürlich vorausgesetzt. Das muss man den Neuankömmlingen abverlangen.
Einwanderer muss man immer kontrollieren und auswählen, sie müssen ihre Eignung beweisen. Ob eine Aufnahme in die Gastgesellschaft gelingen kann, ist von zentraler Bedeutung, und nicht das Mitleid, weil die Menschen aus kaputten, zerstörten Gesellschaften kommen. Man muss immer über klare Prozesse reden, über Grenzen. Dann könnte auch wieder Vertrauen entstehen. Aber nur dann.
WELT: Die Gleichheit zwischen Mann und Frau und der Liberalismus des Westens, sagen Sie, sei das Beste, was die Welt je gesehen hat. Beides ist historisch jung. Aber auch ernsthaft in Gefahr?
Hirsi Ali: Ja, wir erleben eine "fragile Beinahe-Gleichberechtigung", sie ist nur ein Augenzwinkern in der Menschheitsgeschichte. Denn Geschichte pendelt, Errungenschaften können zunichtegemacht werden. Das sehe ich als Gefahr für die westliche Welt, dass ihr Fortschritt durch falsche Anpassung zum Rückschritt wird. Man kann Margaret Atwoods christliche Dystopie "Report einer Magd" durchaus als islamische Dystopie über Staaten wie den Iran, Afghanistan, Saudi-Arabien oder Somalia lesen.
Sicherlich wird Europa nicht wie diese Länder werden, hier werden Frauenrechte subtiler eingeschränkt. Es sind die Nuancen, für die wir uns wieder sensibilisieren müssen. John Stuart Mill und seine Frau Harriet schrieben 1869 gemeinsam über "Die Unterwerfung der Frau". Wir müssen wieder universeller denken.
Die Politikwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali wurde 1969 im somalischen Mogadischu geboren und floh als junge Frau vor einer Zwangsverheiratung in die Niederlande. Sie arbeitete zuerst als Putzfrau und Postsortiererin, dann als Dolmetscherin für die Sozial- und Einwanderungsbehörden. Von 2003 bis 2006 war sie Mitglied des Parlaments.
Ihre islamkritischen Statements führten dazu, dass sie Morddrohungen erhielt und unter Polizeischutz stand. 2006 wurde ihr die niederländische Staatsbürgerschaft aberkannt, als publik wurde, dass Hirsi Ali 1992 bei ihrem Asylverfahren falsche Angaben gemacht hatte.
Sie schrieb zahlreiche Bücher, darunter eine Autobiografie, und lebt mittlerweile mit ihrem Mann, dem Historiker Niall Ferguson und Sohn Thomas in Washington, wo sie in diversen Thinktanks arbeitet.
Ayaan Hirsi Ali erhielt 2012 einen Axel-Springer-Ehrenpreis für "ihren Mut und ihre der Freiheit verpflichtete Haltung als Frauenrechtlerin und Islamkritikerin". Laudator war der niederländische Schriftsteller und Freund Leon de Winter.
Von der Autorin erscheint am 19. April "Beute. Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht." Aus dem Englischen von Karsten Petersen und Werner Roller.
Quelle: welt.de vom 19.04.2021