Holocaust-Gedenken in Polen "Die Deutschen werden uns nicht belehren, was die historische Wahrheit ist"

Stand: 03.07.2021 | Lesedauer: 6 Minuten

Von Philipp Fritz

Ein neues Gesetz erschwert es Nachfahren von Holocaust-Überlebenden in Polen, Wohnungen oder Grundstücke zurückzuerhalten. Israel ist empört. Doch Warschau macht klar, dass man "nicht für deutsche Verbrechen zahlen" werde. Hinter dem Gesetz steckt Kalkül. Israels Außenminister Jair Lapid (r.) und Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki machen ihrer Wut offen Luft
Quelle: AP; AFP; Montage: Infografik WELT

Zuerst wurde der polnische Botschafter in Israel, Marek Magierowski, ins Außenministerium einbestellt. Die polnische Seite jedoch wartete nicht lange. Am Montag bestellte sie ihrerseits die Geschäftsträgerin der israelischen Botschaft, Tal Ben-Ari Jaalon, ins polnische Außenministerium ein.

Entscheidungen wie diese sind in der Diplomatie mindestens ein Schuss vor den Bug. Für den aktuellen Streit zwischen Polen und Israel gilt das umso mehr, zumal Mitglieder der Regierungen beider Länder seit Tagen ihrer Wut offen Luft machen. "Ich habe nicht vor zu schweigen", schrieb etwa der gerade erst in sein Amt eingeführte israelische Außenminister Jair Lapid auf Twitter. "Dies ist eine direkte und schmerzhafte Verletzung der Rechte von Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen."

Und Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki erklärte, dass, solange er regiere, Polen nicht für deutsche Verbrechen zahlen werde. Was also war geschehen, dass zwei Länder, die eigentlich ein partnerschaftliches Verhältnis pflegen, sich plötzlich in einer diplomatischen Krise wiederfinden? Und warum verweisen polnische Offizielle dabei auf Deutschland?

Vergangene Woche verabschiedete der Sejm, das Unterhaus des polnischen Parlaments, eine Gesetzesnovelle. Sie enthält einen Passus, wonach Verwaltungsentscheidungen, die mehr als 30 Jahre zurückliegen, nicht mehr angefochten werden können. Was technisch klingt, betrifft tatsächlich Tausende von Menschen direkt. Holocaust-Überlebende und deren Nachfahren könnte es erschwert werden, in Polen eine Entschädigung für vormaligen Besitz zu erhalten. Opfer der deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs oder Personen, deren Eigentum nach dem Krieg in der Volksrepublik Polen verstaatlicht wurde, sind betroffen.

Polnische Juden werden 1943 von den Nazis aus Warschau deportiertbr /> Quelle: Universal Images Group via Getty Images

Die israelische Botschaft schaltete sich umgehend ein. In einer Stellungnahme drückte sie ihre Verpflichtung gegenüber den Nachfahren aus. Auch die World Jewish Restitution Organization (WJRO) übte scharfe Kritik an dem polnischen Gesetz sowie der Präsident des World Jewish Congress (WJC), Ronald Lauder. Bereits vor der Abstimmung schickte der Geschäftsträger der US-Botschaft, Blix Aliu, einen Brief an das Parlament, aus dem später polnische Medien zitierten. Darin ist die Rede von einem "irreparablen Schaden", der polnischen Holocaust-Überlebenden zugefügt werde.

Die polnische Regierung weist das zurück. Sie will nun auch im Senat, dem Oberhaus, über die Novelle abstimmen lassen. Vor ihrem Inkrafttreten muss sie dann noch Staatspräsident Andrzej Duda vorgelegt werden.

Es ist ein erstaunlicher Vorgang. Denn vieles deutet darauf hin, dass Warschau bewusst eine Verschlechterung der Beziehungen zu Israel in Kauf nimmt - und das, obwohl Polen außenpolitisch zunehmend einsam dasteht. So sind die Beziehungen zu Deutschland aufgrund verschiedener Streitfragen etwa über die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 oder Reparationsforderungen deutlich abgekühlt. Nachbar Tschechien klagt vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen Polen wegen eines Streits über einen Braunkohletagebau und fordert Entschädigungen in Millionenhöhe.

Mit der EU-Kommission, dem EuGH und seit Neuestem auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) liegt die polnische Regierung wegen ihres Justizumbaus über Kreuz. Und nicht zuletzt hat Polen mit dem Wahlsieg Joe Bidens seinen Status als privilegierter Partner der USA in Europa verloren. Trotzdem geht die Regierung jetzt das Risiko ein, die Beziehungen zu einem weiteren Land, Israel, nachhaltig zu schädigen. Der Grund: innenpolitisches Kalkül.

Das sieht auch Michal Bilewicz so. Der 40-Jährige ist Gesellschaftspsychologe und Antisemitismusforscher an der Universität Warschau. Die polnisch-israelische Krise verfolgt er genau. "Tatsächlich würden die meisten Fälle gar nicht Israelis oder jüdische Nachfahren betreffen, sondern Polen", erklärt er im Gespräch mit WELT.

Die Gesetzesnovelle geht zurück auf eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2015. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) begreift dies als Mandat, die sogenannte "wilde Reprivatisierung" zu beenden. Der Begriff bezieht sich auf die Privatisierung von ehedem staatlichem Eigentum in den 90er-Jahren.

Antisemitische Stimmungsmache

Vor 1939 lebte die größte jüdische Gemeinde Europas in Polen. Jedes zweite jüdische Opfer des deutschen Völkermords war auch Pole. Die Überlebenden oder deren Nachfahren verloren später im sozialistischen Polen vielfach ihr Wohneigentum. Einige erhielten es in den 90er-Jahren zurück. Oft aber klagten polnische Betrüger unrechtmäßig Immobilien ein. Für etliche Bewohner war das existenzgefährdend. Es waren keine Einzelfälle; vor allem in Warschau und Krakau bewegt das Thema heute noch viele Menschen. Für die PiS ist es Teil ihrer Sozialpolitik. Mit Israel hat das erst mal nichts zu tun.

"Indem nun die polnische Regierung das nicht hinreichend erklärt, stattdessen ausländische Interessen herbeiredet, eine ‚jüdische Einflussnahme', versucht sie, Zustimmung beim Wähler zu gewinnen", erklärt Experte Bilewicz. Denn die Gesetzesnovelle wird zwar von PiS-Anhängern befürwortet, ist darüber hinaus aber umstritten. Bilewicz warnt in dem Zusammenhang vor antisemitischer Stimmungsmache. "In sozialen Netzwerken sehen wir das bereits", sagt er.

Der Fall erinnert an die Auseinandersetzung um das sogenannte Holocaust-Gesetz 2018. Darin wollte die polnische Regierung festschreiben, dass Personen, die Polen eine Mitschuld an von Deutschen begangenen Verbrechen geben, gar für bis zu drei Jahre im Gefängnis landen können. International wurde das als Versuch der Zensur gewertet. Nach Protesten aus Israel wurde das Gesetz schließlich abgeschwächt.

Auch damals waren die polnisch-israelischen Beziehungen äußerst angespannt; in Polen kam es zu antisemitischen Aufwallungen etwa im Staatsfernsehen oder in sozialen Netzwerken. Wenn eine Regierung eine solche Atmosphäre schaffe, so Bilewicz, "dann kommen die Antisemiten zum Vorschein".

Eine merkwürdige Allianz tut sich auf

Die Initiative der PiS hat noch einen anderen Adressaten: die polnische Opposition. Die zeigte sich während der Abstimmung irritiert. So enthielten sich etwa Abgeordnete der rechtsextremen Konfederacja. Einige ihrer Mitglieder sind offen antisemitisch. Für die Novelle aber waren sie nicht zu haben. Eines ihrer Mitglieder, Janusz Korwin-Mikke, sprach von einem "Betrug der PiS" und davon, dass das Gesetz Polen Reprivatisierungen erschwere. Die Linke hingegen stimmte mit der PiS für das Gesetz. Es ist eine merkwürdige Allianz.

Deutschland spielt in dem Streit auch eine Rolle. "Es dient als Referenzpunkt, als Begründung dafür, warum Polen keine Verantwortung trifft. Schließlich sind die Deutschen für die Verbrechen während der Besatzungszeit verantwortlich", sagt Bilewicz. "Polen aber nehmen eine Doppelrolle ein. Sie waren natürlich Opfer, aber einige Polen haben sich auch an Juden schuldig gemacht, sie verraten oder ihren Besitz übernommen."

Nicht nur Premierminister Morawiecki verwies in der Auseinandersetzung mit Israel auf Deutschland. "Die Deutschen werden uns nicht belehren, was die historische Wahrheit ist", sagte etwa im Staatsfernsehen Janusz Kowalski, Mitglied der Regierungsfraktion - und erweiterte die Diskussion um das Thema Weltkriegsreparationen. Zwar hat die polnische Regierung sich in der Sache bislang nicht an die Bundesregierung gewandt. In Polen aber spielen Forderungen nach Reparationen für von Deutschen an Polen begangene Verbrechen, etwa die Zerstörung von Warschau, seit Jahren immer wieder eine Rolle in der öffentlichen Debatte.

Die Regierenden verweisen nun durchweg auf angebliche äußere Feinde, Israel und in einem zweiten Schritt Deutschland - mit dem Ziel, Zuspruch beim Wähler zu ernten. So werde die Gesetzesnovelle zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über Geschichte hochgekocht, sagt Bilewicz. Und die Stimmungsmache, sie findet auf dem Rücken von Holocaust-Überlebenden wie auch polnischen Opfern statt.


Quelle: welt.de vom 03.07.2021