"Die Bereitschaft im Land ist gesunken, die Menschen aufzunehmen"

Stand: 08.03.2020

Von Hannelore Crolly

Die Türkei droht, syrische Flüchtlinge an der EU-Außengrenze nicht mehr aufzuhalten. Damit könnte eine neue Flüchtlingswelle auf Europa zukommen. Erste Gruppen sollen sich bereits auf den Weg gemacht haben.

Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon (CDU) glaubt nicht an eine Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015. Bei einer neuen Welle wären die Kapazitäten jedoch schnell erschöpft. Von Vorschlägen, sich an einer Kontingent-Lösung zu beteiligen, hält er nichts.

WELT: Herr Bouillon, der türkische Präsident will die Grenzen zur EU nicht länger geschlossen halten, der Flüchtlingsdeal scheint gescheitert. Kommt jetzt die nächste Migrationskrise?

Klaus Bouillon: Ein Mann wie Recep Erdogan ist unberechenbar, ausschließen kann man gar nichts. Aber ich glaube dennoch nicht an eine neue Welle. Die EU-Außengrenzen werden abgeriegelt, und die derzeitigen Zahlen sprechen auch dagegen. In Griechenland sollen zwischen 2000 und 13.000 Menschen vorstellig geworden sein, das ist kein Vergleich zu 2015. Sollte es allerdings doch so weit kommen, dann wird es schwieriger werden als vor fünf Jahren.

WELT: Warum?

Bouillon: Die Bereitschaft und Akzeptanz im Land sind gesunken, die Menschen aufzunehmen. Wir würden vermutlich nicht mehr genug ehrenamtliche Helfer aktivieren können. Außerdem stellt die Aufnahmekapazität ein großes Problem dar.

WELT: Droht auch Widerstand oder gar Gewalt gegen Einrichtungen oder Asylbewerber?

Bouillon: Das glaube ich nicht. Aber ich fürchte schon, dass das rechte Lager noch mehr Zulauf bekäme. Es gibt eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung, weil jeder, der hier ankommt, sofort viele oder teilweise sogar noch höhere Rechte und Ansprüche auf Leistungen oder ärztliche Versorgung hat als jemand, der schon sein Leben lang hier arbeitet.

WELT: Was das Grundgesetz so vorschreibt.

Bouillon: Es herrscht großer Unmut und Frust, das höre ich täglich im Gespräch. Grundbeträge sind gesetzlich festgeschrieben. Auch wenn jemand seinen Pass wegwirft und zur Wiederbeschaffung nicht mit den Behörden kooperiert, können seine Leistungen nur minimal gekürzt werden.

"Die Hälfte derer, die im Moment ankommen, hat ihren Pass verloren oder plötzlich Namen und Herkunftsland vergessen", sagt Saarlands Innenminister Bouillon
Quelle: pa/Oliver Dietze/dpa pa

WELT: Es gibt Hinweise, dass viele Menschen vor der griechischen Grenze wohl gar keine syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge sind. Überrascht Sie das?

Bouillon: Nach Lebach sind hauptsächlich Syrer gekommen. Die Herkunftsländer haben sich verändert, viele erhalten keinen Anspruch auf einen Schutzstatus oder haben sich bereits in anderen europäischen Ländern registrieren lassen. Zudem hat die Hälfte derer, die im Moment ankommen, ihren Pass verloren oder plötzlich Namen und Herkunftsland vergessen.

WELT: Registrieren Sie mehr Ankommende?

Bouillon: Die Aufnahmestelle füllt sich wieder, aber auch, weil 50 Prozent der Abschiebungen scheitern. Mal ist das Kind unauffindbar, wenn die Familie abgeholt werden soll, zwei Stunden später taucht es wieder auf. Oder die Abgeschobenen kommen einfach zurück. Wir haben Menschen, die vier, fünf, sechs Mal wieder einreisen, nachdem wir sie in das EU-Land abgeschoben haben, wo sie erstregistriert sind. Aus Belgien kommen sie einfach mit dem FlixBus zurück. Dann gehen die ganzen Verfahren wieder von vorne los. Mindestens 100.000 Menschen in Deutschland sind endgültig abgelehnt, aber wir kriegen sie einfach nicht in ihre Heimatländer zurück.

Klaus Bouillon (r.) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) 2018 zu Besuch in Lebach. Die Landesaufnahmestelle ist inzwischen Ankerzentrum
Quelle: pa/dpa/Oliver Dietze

WELT: Die Politik ist also machtlos?

Bouillon: Es gibt zumindest einige Lücken im Asylgesetz, die wir schnell schließen könnten. Es kann doch nicht sein, dass erst die Mutter einen Asylantrag stellt, und wenn sie abgelehnt wird, stellt der Vater seinen Antrag und danach noch die Kinder. Ein Antrag auf Asyl sollte gleich für die gesamte Familie gelten. Da ist viel zu wenig passiert in den letzten Jahren.

WELT: Was halten Sie von der Forderung der Grünen-Chefin Annalena Baerbock, Unterkünfte von 2015 zu reaktivieren?

Bouillon: Da gibt es wenig zu reaktivieren. Das, was die Kommunen damals an Wohnraum geschaffen haben, ist ja in aller Regel belegt. Mich hat aber gewundert, dass es überhaupt so lange gedauert hat, bis der Vorschlag kam. Die Grünen propagieren immer noch, dass die Menschen zu uns kommen sollen. In dieser Partei gibt es viele Träumer, auch bei der Einschätzung sicherer oder angeblich nicht sicherer Herkunftsländer. Im Saarland fordern die Grünen die Auflösung der zentralen Landesaufnahmestelle. Dabei ist Lebach der Schlüssel für unsere erfolgreiche Asylpolitik.

WELT: Welche Kritik gibt es an Lebach?

Bouillon: Dass die zentrale Unterbringung sei, weil die Leute dort in Anonymität lebten. Die Menschen sollten sofort in die Kommunen verteilt werden, nicht erst nach Abschluss ihrer Verfahren. Aber das ist fernab jeder Realität und gegen das Gesetz. In Lebach ist für alles gesorgt, es gibt einen Kindergarten, Ärzte, Integrationskurse, Gewaltprävention, Sport und Schulen in der Nähe. Ab dem ersten Tag ihrer Ankunft können die Kinder in die Schule gehen. Die Registrierung ist in wenigen Stunden erledigt, weil alle Behörden an einem Ort sind. Das können wir nicht alles den einzelnen Kommunen überlassen.

Und wenn die Menschen erst mal in die Kommunen verteilt sind und ihr Antrag abgelehnt wird, dann ist die Rückführung und deren Durchsetzung schwierig.

WELT: Hätten Sie genügend Kapazitäten, wenn wieder mehr Asylantragsteller kommen?

Bouillon: Wir haben vor fünf Jahren 35 Millionen Euro für die Kommunen in die Hand genommen. Damit wurden 1600 Wohneinheiten geschaffen und 7000 Menschen integriert. Zurzeit habe ich als Reserve 200 Wohnungen leer stehen. Das ist besser als nichts, aber bei einer neuen Welle wären die Kapazitäten schnell erschöpft.

WELT: 2015 haben Sie sehr früh Feldbetten gehortet und winterfeste Hallen angemietet. Sind Sie auch jetzt schon wieder aktiv geworden?

Bouillon: Wir bereiten uns für den Fall der Fälle vor. Ich bin in Gesprächen über ein ehemaliges Bergarbeiterheim, das wir wieder anmieten könnten. Vor fünf Jahren hatten wir das Haus bereits ausgestattet mit Betten und Waschmaschinen, aber doch nicht gebraucht. Im Notfall wären da schnell 250 bis 300 Plätze eingerichtet.

WELT: Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein - Ihr Parteifreund Daniel Günther - ist bereit, sich an einer Kontingent-Lösung zu beteiligen. Ein löbliches Vorbild oder genau das falsche Signal?

Bouillon: Ich halte von dem Vorschlag nichts. So ein Angebot taugt nur für eine Schlagzeile, löst aber kein Problem. Damit schafft man nur Anreize, dass noch mehr kommen. Dieses Problem kann nur auf europäischer Ebene gelöst werden.

WELT: Bundesinnenminister Horst Seehofer will illegale Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen. Norbert Röttgen, der CDU-Chef werden will, hält Grenzschließungen dagegen für sinnlos und kontraproduktiv. Sollen und können europäische Binnengrenzen geschützt werden?

Bouillon: Was Norbert Röttgen sagt, halte ich für grundsätzlich falsch. Natürlich müssen wir versuchen, die Binnengrenzen stärker zu schützen. Das ist schwierig, aber der Erfolg gibt uns recht. Wir sehen das an der deutsch-französischen Grenze. Vom Bundesinnenminister haben wir 120 zusätzliche Bundespolizisten bekommen, das zahlt sich aus. Es gibt regelmäßige Einsätze mit Kontrollen und Schleierfahndung. Bei jeder Sonderfahndung werden wir in großem Umfang fündig. So etwas spricht sich herum. Die Einsätze haben immer auch eine abschreckende Wirkung.

WELT: Gilt der Kurs von Kanzlerin Angela Merkel in der Migrationspolitik also nicht mehr?

Bouillon: Die Kanzlerin widerspricht den Aussagen des Bundesinnenministers, dass die Grenzen stärker geschützt werden sollten, nicht. Das alleine spricht ja schon für sich.


Quelle: welt.de vom 08.03.2020