FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Mittwoch, 22.01.2020,
Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Herbst 2015 geltendes Recht gebogen oder sogar gebrochen? War ihre Entscheidung, angesichts chaotischer Zustände entlang der Balkanroute Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen, illegal?
Mehr als vier Jahre später beschäftigen diese Fragen bis heute Politiker, Juristen und Teile der Bevölkerung. Die Kanzlerin hat ihre Entscheidung, die Grenzen während der Flüchtlingskrise nicht zu schließen, verteidigt: "Ich glaube, dass Deutschland sehr vielen Menschen in Not geholfen hat."
Dies bestreiten auch Merkels Kritiker nicht, im Gegenteil. Allerdings erinnern sie daran, dass auch humanitäres Handeln mit geltendem Recht in Einklang stehen müsse.
Bereits 2016 stellte der renommierte Verfassungsrechtler Udo di Fabio in einem Gutachten fest, dass der Bund "aus verfassungsrechtlichen Gründen" verpflichtet sei, "wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen". Das Grundgesetz garantiere nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis, so der Topjurist.
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags äußerte in einem Gutachten von 2017 zumindest Zweifel an der Rechtsgrundlage, auf der die Einreise von Flüchtlingen nach Deutschland im Herbst 2015 genehmigt wurde.
Deutliche Kritik an Merkels Entscheidung übt nun auch Hans-Jürgen Papier, Deutschlands höchster Richter außer Dienst. Professor Papier war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts und lehrt bis heute an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
In seinem Ende 2019 erschienenen Buch "Die Warnung - Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird" (Heyne, 272 Seiten) analysiert Hans-Jürgen Papier unter anderem die deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dabei zieht er ein erschreckendes Fazit.
Gleich zu Beginn des entsprechenden Kapitels schreibt er, der Staat dürfe immer "nur im Rahmen der Gesetze" handeln - ganz gleich, "welches strategisch politische Denken ihn bestimmt, was für ökonomische Erwägungen oder auch moralische-ethische Beweggründe ihn treiben".
Dann kommt er zum Punkt: "Besonders in der Asyl- und Migrationspolitik der vergangenen Jahre ist dieser elementare Grundsatz in besorgniserregender Weise ignoriert worden - in Deutschland, aber auch in den anderen Staaten der Europäischen Union." Es verwundere nicht, so Papier, "dass diese politische Willkür das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie und ihre Funktionsfähigkeit erschüttert hat".
"Politische Willkür", "erschüttertes Vertrauen in die Demokratie" - starker Tobak, doch Papier wird noch deutlicher, noch konkreter. Er greift Kanzlerin Merkel direkt an.
Ihre Entscheidung vom 5. September 2015, Flüchtlingen die Einreise ohne weitere Grenzkontrollen zu ermöglichen, sei illegal gewesen: "Das war ein Rechtsbruch", so Papier.
Menschen, die aus sicheren Drittstaaten kommen, hätten "keinen Anspruch auf Klärung, ob sie in Deutschland asylberechtigt sind, und können deshalb auch nicht nur vorläufig in Deutschland bleiben", führt Professor Papier aus. "Sie können - und müssen - also an der Grenze zurückgewiesen werden." Das sei "klare und eindeutige" Rechtsgrundlage.
Mit ihrem berühmten Satz "Wir schaffen das" (als Reaktion auf die Krise im Mittelmeer und die Flüchtlingsströme aus Syrien und Nordafrika) habe Angela Merkel "ein Signal" in die Welt gesendet. Ein Signal für Tausende Menschen, "sich überhaupt erst auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu machen" und nach Deutschland zu kommen.
Papier gibt zu Bedenken: "Auch wenn Teile der Gesellschaft das als inhuman werten: Es war rechtlich nicht in Ordnung, in einem bestimmten Zeitraum alle Migranten unbegrenzt einreisen zu lassen." Es handele sich dabei um "eine Verletzung des deutschen Asylrechts wie auch der europäischen Dublin-III-Verordnung".
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts nennt die politischen Reaktionen auf die massenhafte Zuwanderung aus Nordafrika "eine klare Kapitulation des Rechtsstaats".
"Humanität, Barmherzigkeit und Nächstenliebe - vom moralischen Standpunkt aus sind diese Prinzipien selbstverständlich ehrenhaft und anerkennungswürdig", meint der Spitzenjurist. Allerdings könnten subjektive und individuelle Vorstellungen von Solidarität und Hilfsbereitschaft nicht an die Stelle des Gesetzes treten - "sonst macht sich Chaos breit".
In welcher Form sich das "Chaos" darstellte, beschreibt Papier so: "Die Bereitschaft, Menschen in Not aufzunehmen, hat bei vielen Deutschen Furcht und Abwehr ausgelöst, was in der Folge politisch zu einer Radikalisierung und zu einer besorgniserregenden Spaltung der Gesellschaft führte." Papier: "Das hat den populistischen Rechtsparteien erst richtig zum Aufschwung verholfen."
In seinem Buch spricht Papier Dinge aus, die man als unbequem bezeichnen kann. Feststellungen, die wohl nicht von allen geteilt werden dürften. Einige Beispiele:
Papier kritisiert nicht nur, er sucht auch Lösungen, macht Vorschläge. Um illegale Einreisen mit all ihren Folgelasten effektiv zu verhindern, kann es aus seiner Sicht nur ein Mittel geben: Grenzkontrollen. "Nach meinem Dafürhalten sind sie notwendig, denn die allgegenwärtige Binnenmigration - unter Umgehung der Drittstaatenregelung - ist illegal und sogar strafbares Unrecht." Außerdem fordert Papier eine "grundlegende Reform" des Asyl- und Migrationsrechts, "am besten durch ein neues, einheitliches EU-Recht". Papier: "Wir brauchen einen gemeinsamen Asylraum, mit übereinstimmendem Asyl- und Asylverfahrensrecht und vor allem mit demselben sozialen Standard während des Aufenthalts."
Vorstellbar sei für ihn auch ein Verfahren, mit dem die Fluchtgründe von Ausländern vorab geprüft werden. "Dazu könnte ein formalisiertes Einreiseverfahren dienen, wie es zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika auf elektronischer Basis praktizieren." Mit einem solchen System könnten "Plausibilität und Dringlichkeit des Fluchtgrundes vorab weitestgehend geklärt und eine geordnete und legale Einreise ermöglicht werden". Falle die Vorprüfung positiv aus, könne das eigentliche Asylverfahren auf dem Boden der EU stattfinden.
"Ein solches Einreiseverfahren sollte in der Europäischen Union einheitlich eingeführt und gehandhabt werden", schlägt Papier vor. In jedem Fall aber müsse sichergestellt werden, "dass das Asylrecht nicht länger zweckentfremdet werden kann als Türöffner' für eine illegale Einwanderung - von Personen, die ersichtlich kein Recht auf Asyl oder auf internationalen Schutz in Deutschland und der EU haben."
Eindringlich mahnt der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, dass die illegale Zuwanderung "weiter anhalten" werde. "Wenn die Politik nicht umsteuert, erleidet die Rechtsstaatlichkeit auf diesem auch in Zukunft so wichtigen Terrain einen irreversiblen Vertrauensverlust."