Der andere Blick Deutschland und seine Regierung brauchen einen Realitäts-Check In einer neuen Serie befasst sich die NZZ mit dem Fall Deutschland - warum das Land abstürzt und wie es wieder auf die Beine kommen kann. Will die Bundesrepublik ihre zwölf zentralen Probleme lösen, muss sie diese zunächst anerkennen - und daran hapert es.

Alexander Kissler ist politischer Redaktor der NZZ in Deutschland.

Berlin, 19.07.2023, 17.56 Uhr

Bis zum Sturz der Berliner Mauer war die Rede von den "zwei Deutschland" weit verbreitet. Es gab ja tatsächlich eine Bundesrepublik und eine DDR, ein Land mit West- und eines mit Ostbindung, einen Rechts- und einen Überwachungsstaat. Wechselseitig beobachtete man sich mit Argwohn.

Egal ob Altenpflege oder Bundeswehr: In Deutschland läuft vieles nicht rund.
Grafik Sophia Kissling / NZZ

Heute, über dreissig Jahre nach der Wiedervereinigung, scheint es eine doppelte Optik für das eine Land zu geben. Die Beschreibungen vieler Politiker und die Erfahrungen vieler Bürger passen nicht mehr zusammen. Je nach Sichtweise hat eine Erfolgsgeschichte ihre besten Zeiten noch vor sich oder ist die Bundesrepublik bereits abgehängt, ausgezehrt, sanierungsbedürftig. Grund genug, in einer zwölfteiligen Serie den "Fall Deutschland" aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, geleitet von der Frage, warum das Land abstürzt und wie es wieder auf die Beine kommen kann.

Für den Kanzler ist alles zum Besten bestellt. Wenn Olaf Scholz vor die Kameras tritt, lobt er sich, seine Regierung, sein Land. Er begreift sich als Handelsreisenden in Sachen Zuversicht. Ein neues Wirtschaftswunder sieht er am Horizont, Deutschland befinde sich "in der grössten Modernisierungs- und Innovationsperiode seit vielen, vielen Jahrzehnten".

Wird Scholz mit Kritik konfrontiert, weist er sie zurück. "Wir haben", sagte er jüngst beim "Kanzlergespräch" im bayrischen Füssen, "eigentlich gegenwärtig eine Lage, die ein bisschen anders ist als manche Dinge, die man so hört." Konkret nannte er die "höchste Beschäftigtenzahl in der Geschichte Deutschlands, 45 Millionen Erwerbstätige". Ihm, Scholz, sei nicht bange. Alle könnten beruhigt sein: "Dass es wirklich so ist, dass es bei uns schlecht ausgeht, das ist ziemlich unwahrscheinlich, wenn wir das Richtige tun."

Viele Bürger, Politiker anderer Parteien, Wissenschafter und Forscher runzeln die Stirn, denken sie an Deutschlands Zukunft. Sie bezweifeln, dass die Regierung das Richtige tut. Unternehmer befürchten, die Regierung habe die soziale Marktwirtschaft zum Auslaufmodell erklärt. Eine zuverlässig steigende Steuer- und Abgabenlast erschwert den technischen ebenso wie den ökonomischen Fortschritt.

Migration als Kernproblem

Jobs gibt es genug, doch Fachkräfte sind rar, und Asylbewerber fassen auf dem deutschen Arbeitsmarkt nur schwer Fuss.
Grafik Sophia Kissling / NZZ

Wie aber soll jener Wohlstand erwirtschaftet werden, auf den der umverteilende Sozialstaat angewiesen ist, wenn im Namen einer angeblich alternativlosen Transformation die Wirtschaft geknebelt wird? Schon macht das Wort von der Deindustrialisierung die Runde. Auch eine überbordende Bürokratie trägt zuverlässig dazu bei, die Flamme einer keineswegs nur unternehmerisch zu fassenden Selbständigkeit zu ersticken.

Ein weiteres Feld nicht minder gravierender Probleme ist die Migrationspolitik. Zaghafte Absichtserklärungen, der Steuerung der Zuwanderung eine Begrenzung zur Seite zu stellen, werden in der Praxis konterkariert. Ausschaffungen abgelehnter Asylbewerber bleiben rare Ausnahmen, an den Pull-Faktoren ändert sich nichts, die Kommunen sind mit der Unterbringung der Migranten überfordert.

Allein in diesem Jahr könnten am Ende über 300 000 Asylbewerber und eine ebenfalls sechsstellige Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine Einlass erhalten haben. Da lauert eine soziale wie ökonomische Herausforderung ungeahnten Ausmasses. Sie hat das Potenzial, Deutschland umzugestalten.

Dass im öffentlichen Raum die Sicherheit zu erodieren beginnt, hat nicht ausschliesslich, aber eben auch mit der Migration zu tun. Wie entstanden die sogenannten No-go-Areas, in denen der Rechtsstaat nur Zaungast ist, und wie könnten sie wieder verschwinden? Die innere Sicherheit ist auch deshalb so zentral, weil sie darüber entscheidet, ob Deutschland für qualifizierte Zuwanderer attraktiv bleibt. Niemand will in ein Land übersiedeln, in dem er mit einer für ihn relevanten Wahrscheinlichkeit fürchten muss, Opfer einer Messerattacke oder eines Machetenangriffs zu werden.

Auch die Bundeswehr hat Nachwuchssorgen.
Grafik Sophia Kissling / NZZ

Auch der Zustand der Bundeswehr, die letztlich die äussere Sicherheit garantieren müsste, lässt trotz einer pathetisch ausgerufenen "Zeitenwende" zu wünschen übrig. Wäre auf sie wirklich Verlass, wenn die Bundesrepublik sich verteidigen müsste? Deutschland scheint nur bedingt abwehrbereit zu sein, aller Beliebtheit des amtierenden Verteidigungsministers zum Trotz.

Gerne abgewehrt werden hingegen die Ansprüche auf eine funktionierende Infrastruktur. Deutschland ist eben auch das Land der maroden Brücken, der trägen Behörden und der noch immer viel zu vielen Funklöcher. Digitalisierung wurde vom Fremd- zum Schimpfwort. Der Aufbruch ins 21. Jahrhundert steht noch aus.

Die Einheit steht auf dem Spiel

Bleiben ferner, um die Kette der Probleme zu vollenden, die Bildung, die Justiz und die neue Kluft zwischen Ost und West. Zur Bildungsnation wird Deutschland in Sonntagsreden erklärt, in der Praxis bleibt es beim Wünschen, Hoffen, Daumendrücken. Die mangelnden Lese- und Rechenkünste der Grundschüler sind ebenso beklagenswert, wie es die oftmals nur noch formale Hochschulreife der Abiturienten ist. An den Universitäten gilt in vielen Disziplinen die vermeintlich richtige Haltung mehr als das richtige, das unvoreingenommene Denken, Forschen, Ausprobieren.

Die Gerichte ächzen derweil unter der Last von Bagatellfällen ebenso wie unter subtil vermittelten weltanschaulichen Vorgaben. Und mental, so scheint es, ist die Mauer zwischen den Landesteilen zurückgekehrt. Die Wahlen im kommenden Jahr werden zeigen, ob da wieder entzwei reisst, was einmal zusammenwuchs.

Kommentar
Die deutsche "Ampel" in der Dauerkrise: Arroganz löst keine Probleme
08.07.2023

Deutschland ist durchaus, wie es Olaf Scholz einmal formulierte, ein Hoffnungsland. Am Anfang aber jeder Hoffnung, die nicht ins Lächerliche abrutschen will, braucht es eine ungeschminkte Bestandsaufnahme. Wer die Augen vor der Realität verschliesst, kann diese nicht zum Besseren verändern. Wer aber in Untergänge verliebt ist, wird sie erleben.

Deshalb braucht es beides: den Mut, die Wirklichkeit gerade da auszuhalten, wo sie schmerzt - und die Neugier auf eine Zukunft, die keineswegs mit schicksalshafter Notwendigkeit schlecht ausgehen muss.

Hier geht es zum ersten Text der neuen NZZ-Serie: Adieu, soziale Marktwirtschaft? Wie der deutsche Staat den Aufbau von Wohlstand verhindert.

einige Kommentare

Johann Sajdowski
Das beste Deutschland aller Zeiten? Nein! Das verrückteste! Das einzige Land,

Wie konnte es so weit kommen? Wohlstandsverwahrlosung und Dekadenz in Tateinheit mit deutscher Obrigkeitshörigkeit und Duckmäusertum in einer Situation, in der rot-grüne Kulturkrieger die Macht übernommen haben in Medien und Politik. Sozusagen das alte deutsche Spießertum im neuen Gewand: Rot statt tiefschwarz bzw. braun.

Christa Wallau
Wo man das Leistungsprinzip aufgibt und die Bildung verkommen lässt (seit den 80er-Jahren des vorigen Jhdts. ist dies der Fall), bekommt man mit absoluter Sicherheit genau die Zustände, die in Deutschland inzwischen anzutreffen sind. Bei uns sitzt die DUMMHEIT auf dem Thron und verkauft sich als MORAL.


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