Kommentar von:
FOCUS-Online-Redakteur Christian Döbber
Montag, 09.11.2020, 09:06
Vor der US-Wahl wünschte sich in Umfragen die Mehrheit der Deutschen eine Niederlage von US-Präsident Trump. Und viele Prognosen sahen Herausforderer Joe Biden tatsächlich klar hinter dem Amtsinhaber. Gestern früh dann starrte das politische Berlin mit Entsetzen nach Washington. Mit seinem unerwartet guten Abschneiden hat Trump seinem Land einen nie dagewesenen Wahlkrimi beschert - und auch die politische und mediale Elite nicht nur hierzulande mächtig vor den Kopf gestoßen.
Ganz gleich, wer am Ende gewinnt: Viele Menschen in Deutschland und Europa fragen sich angesichts der vielen Stimmen für Trump gerade: Spinnen die Amis? Haben sie aus den vergangenen vier Jahren Politik-Chaos und Twitter-Gaga gar nichts gelernt?
Eine Reaktion, die nur allzu menschlich ist. Trump lügt offen, hetzt und spaltet. Er diskriminiert Minderheiten, hebelt internationale Verträge aus und nimmt mit seiner verharmlosenden Corona-Politik Tausende Virus-Tote in den USA in Kauf. Für viele Europäer ist es schlichtweg nicht nachvollziehbar, wie so viele Amerikaner noch einmal für Trump stimmen konnten. Und auch die Politik hat nie einen Hehl daraus gemacht, was sie vom US-Präsidenten hält.
Solch harte und mitunter beleidigende Aussagen wirken nach. Der Politikwissenschaftler Thomas Jäger glaubt, dass die politische Klasse hierzulande in den letzten vier Jahren eine Distanz zu den USA aufgebaut hat - "eine Distanz, deren Folge es ist, dass immer weniger Deutsche die amerikanische Politik nachvollziehen können und wollen".
Für viele Menschen hierzulande sind die USA und ihre Bürger in der Tat zu einem Mysterium geworden: Die Deutschen haben einer aktuellen Umfrage zufolge sogar mehr Angst vor dem US-Präsidenten (für 53 % die größte Gefahr) als vor Corona (32 %). Und wenn sie über Donald Trump und sein Land sprechen, schwingt oft eine gewisse Überheblichkeit und arrogante Besserwisserei mit: "Legt euch doch erstmal ein ordentliches Wahlsystem zu", "Von unserem Sozialstaat könnt ihr viel lernen".
Oft zeigen Deutsche mit dem moralischen Zeigefinger auf die USA und seine Bürger, rümpfen das Alte-Welt-Näschen in der Überzeugung, hier liefe alles besser - dabei wäre etwas mehr Demut durchaus angebracht.
Der Tagesthemen-Anchorman Ingo Zamperoni, der mit seiner amerikanischen Familie in den USA lebt und die Spaltung des Landes hautnah miterlebt, sagt:
Erstens vergessen wir allzu gerne, dass viele Amerikaner schlicht anders ticken als Deutsche. Ein Großteil hält einen Sozialstaat nach deutscher Fasson für nichts weiter als Sozialismus. Auch Trumps Missmanagement der Coronakrise nehmen ihm viele Bürger - darauf weisen erste Wahlanalysen hin - offenbar nicht übel. Ihnen ist wichtiger, dass die Wirtschaft brummt, dass es neue Jobs gibt für das Heer an Arbeitslosen im Land.
Zweitens beruht Trumps Erfolg auch auf der jahrelangen Vernachlässigung von ganzen Bevölkerungsgruppen durch die politischen und medialen Eliten. Arbeitslose, Geringqualifizierte, die große Gruppe der so genannten "Working Poor" - für all jene, für die der American Dream nicht mehr funktioniert, ist Trump ein Hoffnungsträger. Seine Wahl zum Präsidenten 2016 war ein gewaltiges Misstrauensvotum gegen den Clinton-Clan, gegen die etablierten Parteien, gegen Migration, internationale Kooperation, die Eliten und die Medien.
Auch in Deutschland gibt es Nährboden für den Populismus, der Trump groß gemacht hat - wenn auch in abgeschwächter Form.
Zudem zweifeln offenbar immer mehr Menschen auch hierzulande am System. Dem Edelmann Trust Barometer, einer jährlichen Studie zu Vertrauen in Regierungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Wirtschaft und Medien, zufolge, glauben nur zwölf Prozent der Deutschen daran, dass das aktuelle System für sie arbeitet. 55 Prozent finden, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form mehr schadet als hilft.
Auch hierzulande gibt es sie also en masse, die Menschen, die sich unverstanden, abgehängt und von der Politik nicht repräsentiert fühlen. Und die Coronakrise verschärft die Kluft weiter.
Die deutsche Gesellschaft ist also keineswegs in einem Zustand, in dem man sich ausruhen könnte. "Nicht nur in den USA lebt die politische und mediale Elite in einer Bubble, in der die Enttäuschung und Wut der Abgehängten einfach ignoriert wird", sagt der Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann zu FOCUS Online.
Anstatt im Glauben, bei uns liefe alles besser, über die US-Amerikaner und ihre Wahlentscheidung zu urteilen, sollte sich Deutschland also besser auf seine eigenen Probleme konzentrieren. Oder wie es der Soziologe Hartmann beschreibt:
Quelle: focus.de vom 09.11.2020