Deutsche Flüchtlingsdebatte: Politik kann kein permanenter Gnadenakt sein

Christoph Prantner, Berlin 57 Kommentare 16.09.2020,

In Deutschland ist es auch fünf Jahre nach der großen Flüchtlingswelle noch nicht möglich, ein heißes Herz mit einem kühlen Kopf in Einklang zu bringen. Die Lernkurve in Sachen Migration hat die Nulllinie nicht wesentlich überschritten. Angela Merkel und Horst Seehofer verhandelten die Aufnahme von 1553 Flüchtlingen aus Lesbos.
Henning Schacht / EPA

"Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen." In den vergangenen Tagen fiel dieser Satz in der deutschen Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem niedergebrannten Lager Moria oft. Gemünzt war er auf den unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen über deutsche Grenzen und den zeitweiligen Kontrollverlust des deutschen Staates vor fünf Jahren. Sieht man auf den Kompromiss, den die deutsche Bundesregierung nun zum Moria-Streit vorgelegt hat, hat sich diese Geschichte tatsächlich nicht wiederholt.

Wer dagegen auf die erbitterte Diskussion selbst blickt, könnte sich in der Tat noch im Herbst 2015 wähnen. In der politischen Auseinandersetzung werden eifrig Begriffe verwischt, moralische Positionen bezogen, Emotionen bemüht und rechtliche Standards unterlaufen. In Deutschland, so scheint es, ist es auch fünf Jahre nach der großen Flüchtlingswelle noch nicht möglich, ein heißes Herz mit einem kühlen Kopf in Einklang zu bringen. Die Lernkurve in Sachen Migration hat die Nulllinie nicht wesentlich überschritten.

Beruhigung des kollektiven Gewissens

Die Aufnahme Schutzberechtigter von den griechischen Inseln ist ein verzagter Ausdruck dieses bemerkenswerten Stillstandes in der öffentlichen Debatte. Natürlich ist es eine noble humane Geste, die immerhin 1553 Menschen hilft. Aber ändert es etwas am strukturellen Problem des anhaltenden Migrationsdrucks an den europäischen Außengrenzen? Nein. Ist es mehr als eine Beruhigung des kollektiven Gewissens? Nein.

Weil die Fronten so verhärtet sind, Wunschdenken und Realpolitik sich so diametral gegenüberstehen, ist es in Deutschland immer noch unmöglich, die Dinge beim Namen zu nennen: Flüchtlinge und Migranten in griechischen Auffanglagern, die auch von deutschen Steuerzahlern finanziert werden, sind menschenwürdig zu behandeln. Mutmaßliche Brandstiftung dagegen kann kein Fahrschein für eine Freifahrt nach Europa ohne jeden Asylgrund sein. Punkt.

"Die Kirche kann barmherzig sein, der Staat darf das nicht"

"Die Kirche kann barmherzig sein, der Staat darf das nicht. Er muss nach dem Maßstab der Gerechtigkeit handeln, auch wenn die Ergebnisse die Barmherzigen verstören", sagte der Theologe Richard Schröder vor einiger Zeit in einem Interview mit der NZZ. Diese Verstörung auszuhalten, fällt vielen hierzulande schwer. Deswegen hat sich Berlin nun in Sachen Moria wieder für ein einseitiges Vorpreschen entschieden - diesmal immerhin mit der Einschränkung, nur schutzberechtigte Menschen und unbegleitete Minderjährige ins Land zu holen.

Politik allerdings kann kein permanenter Gnadenakt sein. Das wäre zumindest so unmoralisch wie ein Verschließen der Augen vor der Not der Menschen in Moria. Politik braucht Struktur, allgemeingültige Standards und ein rationales Einvernehmen, das haltbare Problemlösungen ermöglicht. Migrationspolitik zumal braucht die Erkenntnis, dass Deutschland, dass Europa nicht alle Einwanderwilligen aufnehmen kann (und muss).

Seltsame deutsche Selbstbezogenheit

Von dieser Erkenntnis sind viele in Deutschland schlechterdings weit entfernt. Und genau deshalb ist auf den Fluren in Brüssel, wo eine gemeinsame europäische Migrationspolitik entstehen soll, oft zu hören: Ach, Migration, das ist doch ein deutsches Problem. Eine europäische Lösung in Sachen Asyl und Migration scheitert auch an der seltsamen Selbstbezogenheit der deutschen Debatte. Wer eine gemeinsame europäische Asylpolitik will, muss zur Kenntnis nehmen, dass die eigenen moralischen Erwägungen keine Grundlage für EU-Lösungen sein können.

Demnächst soll die EU-Kommission - unter tatkräftiger Mithilfe der deutschen Präsidentschaft - ein Asyl-Reformkonzept vorlegen. Das wird nach dem Fall Moria die nächste Probe aufs Exempel sein, ob Berlin bereit ist, eine realistische Migrationspolitik zu machen.


Kommentare

H. G. S.
Ich hege die Befürchtung, dass Deutschland nicht in der Lage sein wird zu Rationalität und Vernunft zurückzukehren. Das liegt vor allem an den linken Mainstreammedien, die die Politik vor sich hertreiben. Merkel war immer durch Opportunismus angetrieben, nie durch Überzeugungen.

Tim Bergmann
Schaeffler, MAN, Continental… Nur die richtig großen Namen in den letzten Wochen. Zehntausende mehr oder weniger ordentlich bezahlte Arbeitsplätze werden gestrichen, es trifft überwiegend ganze Standorte. Und immer noch wird so getan als ob das Geld unendlich sprudelt und die Arbeitsplätze für unqualifizierte auf der Straße liegen. Die sozialen Verwerfungen und Verteilungskämpfe werden schlimm in den nächsten Jahren. Ja, es geht auch ganz schnöde um Geld, viel viel Geld. Und ein malocher bei MAN wird innerhalb weniger Jahre in Hartz 4 dasselbe Almosen erhalten wie all die zugereisten. Gerecht? Hört wenigstens auf die Menschen zu veräppeln und zu belügen.


Quelle: NZZ vom 16.09.2020