Georg Häsler, Bern 20.09.2022, 05.30 Uhr
Metin Aktas / Anadolu / Getty
In der antiken Sage besiegt Odysseus den Kyklopen Polyphemos nicht mit Gewalt allein, sondern vor allem mit einer List. Der Held schaltete den Riesen aus, indem er ihm das Augenlicht raubte und ihn täuschte. Odysseus und seine Gefährten konnten dadurch fliehen. Nichts nützte Polyphemos seine "gewaltige Keule, grün, aus Olivenholz gehauen", wie Homer schrieb.
Kraft allein reicht also gegen einen klugen Gegner nicht. Dies erfährt die russische Armee seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar immer wieder, zuletzt im Nordosten bei Charkiw. Innerhalb weniger Tage gelangen den ukrainischen Panzerverbänden in einer klassischen Gegenoffensive grosse Geländegewinne. Den russischen Truppen blieb nur die überhastete Flucht. Die Ukraine landeten einen Coup, scheinbar aus dem Nichts.
Doch die Voraussetzungen für den Blitzangriff schaffte die ukrainische Armee früher und an einem ganz anderen Ort: im Süden des Landes. Schritt für Schritt erhöhte sie den Druck auf die Besatzer westlich des Dnipro. Die russische Armee geriet in die Rolle der Verteidiger und sah sich gezwungen, zusätzliche Kräfte über den Dnipro zu ziehen. Diese fehlten im Donbass. In der Schwergewichtszone des Kampfes kam es zu einem Stillstand. Gleichzeitig öffnete sich im Nordosten eine Lücke in der Front. Dort hielt sich die ukrainische Armee mit genügend Truppen und Ausrüstung für einen energischen Stoss bereit.
Kiew setzte konsequent auf den Effekt der Überraschung. Der preussische Militärphilosoph Carl von Clausewitz sieht darin "das Mittel zur Überlegenheit" schlechthin. Die Überraschung sei aber auch als "ein selbständiges Prinzip" anzusehen, "nämlich durch ihre geistige Wirkung".
Die Erfolgsfaktoren dafür seien "Geheimnis" und "Schnelligkeit", schreibt Clausewitz weiter. "Bei der Regierung und dem Feldherrn" setze dies "eine grosse Energie, beim Heer einen grossen Ernst des Dienstes voraus". Mit anderen Worten: Für eine erfolgreiche Überraschung ist vor allem mentale Stärke gefragt.
Daran mangelt es der ukrainischen Führung nicht. Methodisch scheint sie dabei auf die amerikanische Doktrin des "Command and Control Warfare" zu setzen, abgekürzt C2W. Der physische Kampf wird mit nichtphysischen Mitteln ergänzt. Eine kluge Planung kompensiert die Masse an Mensch und Munition.
Die C2W-Methode, die direkt an Clausewitz anschliesst, wird als der militärische Teil des Informationskriegs verstanden: Die Politik prägt in ihrer Kommunikation die grossen Linien des Narrativs. Die militärischen Kommandanten nutzen diese Leitplanken unter anderem, um den Gegner zu manipulieren oder seine Führungshandlungen zu stören.
Die verschiedenen Elemente des C2W, wie dieser in einer Dokumentation der Schweizer Armee genannt dargestellt wird, geben Hinweise auf das ukrainische Vorgehen der letzten Wochen:
Die Grundlagen des C2W wurden seit den 1990er Jahren weiterentwickelt. Künstliche Intelligenz erlaubt es unter anderem, Daten aus allen möglichen Quellen schneller zu fusionieren. Die Smartphone-Technologie ermöglicht einen Austausch des Lagebilds in Echtzeit. Im Krieg gegen die Terrormilizen in Syrien übermittelten kurdische Kämpferinnen über Tablets ihre Zielkoordinaten an westliche Kampfflugzeuge.
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Von diesen Entwicklungen konnte die ukrainische Armee lernen. Der C2W dürfte sich im Krieg gegen Russland noch einmal revolutionieren. Die Ukraine betreibt ein britisches Command-and-Control-System, das eine Vernetzung der Führungsinstrumente ermöglicht. Damit lassen sich die Nato-Sensoren und die westlichen Waffensysteme verbinden.
Das C2W-Prinzip funktioniert nur eingebettet in die strategische Kommunikation der politischen Stufe. Auch hier beherrscht Kiew die ganze Klaviatur des Informationskriegs. Odysseus verhöhnt den übertölpelten Riesen aus sicherer Distanz - und verliert später alle seine Gefährten durch die Rache des Meeresgottes Poseidon. Weniger aus Gründen göttlichen Zorns als vielmehr aus Kalkül verzichtet der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bis jetzt auf jede Form von Überheblichkeit.
Sein Informationskrieg zielt weiter - auf den guten Willen des Westens, hinreichend Waffen zu liefern. Denn List und kluge Taktik allein reichen nicht. Der "Command and Control Warfare" legt die Grundlage, damit die mechanisierten Verbände wie fliessendes Wasser vorrücken können. Doch um weiter Gelände zurückzugewinnen, braucht die Ukraine deutlich mehr Kampfpanzer.