Der Krieg in der Ukraine zehrt auch die amerikanischen Waffenlager aus

Christian Weisflog, Washington 30.11.2022, 05.30 Uhr

Die Ukraine hat auf dem Schlachtfeld die Oberhand gewonnen. Entscheidend waren dabei Waffensysteme, die selbst in den Arsenalen der USA nicht endlos vorhanden sind. Um ihre Produktion zu erhöhen, braucht die Industrie viele Monate oder gar Jahre. Ein ukrainischer Soldat nimmt am Flughafen in Kiew im Februar, kurz vor dem russischen Einmarsch, eine Lieferung von Javelin-Panzerabwehrraketen in Empfang.
Valentyn Ogirenko / Reuters

Wenn es um die Ukraine geht, zeigt sich der amerikanische Präsident Joe Biden stets standhaft. Washington werde Kiew "so lange wie nötig unterstützen", lautet seine Maxime. Der Krieg dürfe für den Kremlchef Wladimir Putin auf keinen Fall erfolgreich enden.

Die Entschlossenheit widerspiegelt sich in Zahlen: Der amerikanische Kongress hat bereits 68 Milliarden Dollar bewilligt, um die Ukraine militärisch, wirtschaftlich und humanitär zu unterstützen. Drei Viertel davon sind aufgebraucht oder fest verplant. Deshalb hat das Weisse Haus das Parlament kürzlich gebeten, weitere 38 Milliarden Dollar für Kiew zur Verfügung zu stellen.

Ukraine feuert bis zu 7000 Artilleriegeschosse pro Tag ab

Mit dieser Hilfe konnte die Ukraine nach der siegreichen Schlacht um Kiew über den Sommer auch das Blatt auf den Schlachtfeldern im Osten und im Süden wenden. Mitentscheidend für den Erfolg war dabei einerseits die Lieferung von 142 M777-Haubitzen und von über 800.000 dazu passenden 155-Millimeter-Artilleriegeschossen. Andrerseits erhielt Kiew 20 Himars-Mehrfachraketenwerfer, mit deren Reichweite und Präzision die ukrainischen Streitkräfte gezielt russische Munitionslager oder logistische Knotenpunkte treffen konnten.

Für beide Waffensysteme sind die amerikanischen Vorräte und Produktionskapazitäten jedoch beschränkt. Die USA habe insgesamt rund 1000 M777-Haubitzen gefertigt und ihre Produktion eingestellt. Um weitere Einheiten an die Ukraine liefern zu können, müsste das Pentagon vermutlich einzelne Geschütze aus eigenen Truppenverbänden abziehen, schrieb der Sicherheitsexperte Mark Cancian in einer Analyse im September.

Auch die amerikanischen Lagerbestände für die 155-Millimeter-Munition stossen an Schmerzgrenzen. Die USA haben über 800.000 dieser Geschosse in die Ukraine geliefert. Um jedoch auf die militärische Eskalation eines anderen Konflikts - etwa einen chinesischen Angriff auf Taiwan - reagieren zu können, muss Amerika stets ein Mindestmass an Munition an Lager haben. Dieses Mindestmass scheint im Falle der 155-Millimeter-Geschosse erreicht zu sein. Sonst würde Washington kaum mit Südkorea über die Lieferung von 100.000 Stück dieser Projektile verhandeln.

Die USA kaufen derzeit pro Jahr nur rund 30.000 Geschosse für die M777-Haubitzen ein. Die amerikanische Industrie produziere 15.000 Stück an Artilleriemunition pro Monat, schreibt die "New York Times". Die ukrainischen Streitkräfte feuern indes täglich bis zu 7000 Artilleriesalven ab. Weil es sich um eine Standardmunition der Nato handle, könnten auch andere Länder diese an Kiew liefern, schreibt Cancian, der früher für das Pentagon arbeitete. Allerdings gibt es Berichte von der Front, dass nicht alle Munition den M777-Haubitzen gleich gut bekommt. Selbst die Verwendung kompatibler Geschosse könne dazu führen, dass sich die Geschützläufe schneller abnützten und ausgetauscht werden müssten. Gemäss der "New York Times" sind Waffensysteme einzelner Nato-Länder selten dafür gemacht, dass sie auch mit Munition aus anderen Nato-Staaten einwandfrei funktionieren. Ähnlich wie die Hersteller von Druckern wollten auch Rüstungsfirmen sichergehen, dass sie die Patronen zu ihren Produkten liefern könnten.

Rüstungsfirmen wollen langfristige Zusagen

Auch bei den Himars gibt es Engpässe. Die USA haben der Ukraine zwar 18 weitere Mehrfachraketenwerfer dieses Typs zugesagt. Diese müssen allerdings zunächst hergestellt werden. Bis sie an der Front ankommen, werden Monate oder gar Jahre vergehen. Auch wenn die Herstellerin Lockheed Martin die jährliche Produktion von 60 auf 96 Stück gesteigert hat, ist die Nachfrage nach dem Waffensystem aus der ganzen Welt derzeit gross. Für Kiew könnte zudem auch hier die Munition zum Problem werden. Gemäss Schätzungen verfügten die USA vor dem Krieg über 25.000 bis 30.000 GMLRS-Raketen. Geht man davon aus, dass rund ein Drittel an die Ukraine geliefert wurden, wären das 8000 bis 10.000 Stück. "Diese Bestände reichen vermutlich für mehrere Monate, aber wenn sie aufgebraucht sind, gibt es keine Alternativen", meint Cancian. Denn in den USA würde jährlich nur rund 5000 solche Raketen gebaut.

Engpässe gibt es auch bei den Panzerabwehrraketen des Typs Javelin und den Stinger-Flugabwehrraketen. Im Falle der Stinger hat die amerikanische Regierung zwar bereits 1300 Stück nachbestellt, um die Lager aufzufüllen. Doch weil einzelne Bestandteile gar nicht mehr verfügbar sind, muss die Herstellerin diese nun neu konzipieren. Auch das braucht Zeit.

Gleichzeitig schrecken die Rüstungsfirmen davor zurück, ihre Produktionskapazitäten zu stark auszubauen. Ihnen fehlt es an langfristigen Zusagen für Waffenkäufe seitens der Regierung. Genau dies aber würde es brauchen, damit die Produzenten auch gewillt wären, in grössere Fertigungsanlagen oder mehr Mitarbeiter zu investieren. "Sie haben Angst, dass der Krieg zu Ende geht, die Aufträge ausbleiben und sie auf ihren ausgebauten Fabriken sitzen bleiben", erklärte Cancian kürzlich gegenüber "Foreign Policy".

Auch wenn die eine oder andere Munition für ein bestimmtes Waffensystem ausgehen sollte, verfügen die USA jedoch noch immer über Alternativen. Anstatt Javelin könnten sie etwa vermehrt TOW-Panzerabwehrraketen liefern. Und anstelle der 155-Millimeter-Haubitzen könnte Washington verstärkt auf 105-Millimeter-Geschütze für Kiew zurückgreifen. Aufgrund der geringeren Reichweite und Wucht hätte dies jedoch Nachteile für die Ukraine auf dem Schlachtfeld, sagte der Militärexperte Dave Des Roches gegenüber dem Fernsehsender CNBC: "Die Reichweite ist entscheidend in diesem Krieg. Das ist ein Artillerie-Krieg."

Es wird sich zeigen müssen, inwieweit die USA und ihre Nato-Partner wirklich bereit sind, ihre Rüstungsproduktion zu steigern oder ihre Arsenale zu plündern, um die Ukraine ausreichend mit Waffen zu versorgen. Mark Milley, der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, legte Kiew kürzlich nahe, seine jetzige Position der Stärke zu nutzen, um im Winter eine diplomatische Lösung für den Krieg zu finden. Die russischen Truppen ganz aus der Ukraine zu drängen, sei "sehr schwierig". Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan versicherte hingegen, dass Washington keinen Druck auf Kiew ausübe, um es zu Verhandlungen mit Moskau zu bewegen.

In einem Interview mit "Politico" forderte der ukrainische Aussenminister Dmitro Kuleba am Montag die Nato-Staaten derweil dazu auf, ihre Waffenproduktion zu steigern, um Kiew die notwendigen Rüstungsgüter liefern zu können. Wenn dies nicht passiere, werde die Ukraine den Krieg nicht gewinnen. "So einfach ist das."


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