Eine Kolumne von Michael Sauga
22.12.2021, 19.24 Uhr
Vor gut einem Jahr veröffentlichte die amerikanische Rechtsprofessorin Anu Bradford ein einflussreiches Buch unter dem Titel "Der Brüssel-Effekt". Es war eine Hymne auf die sanfte Macht des europäischen Binnenmarkts. Weil globale Konzerne auf die Geschäfte im zweitgrößten Wirtschaftsraum der Erde nicht verzichten können, so lautete die zentrale These des Buches, übernehmen sie notgedrungen die hohen Umwelt- und Sicherheitsnormen der EU, um sie weltweit anzuwenden.
Wettbewerbsrecht, Datenschutz, Chemikalienverordnung: überall sind Europas Regeln zu globalen Standards geworden, ohne dass dafür Handelsabkommen oder politischer Druck nötig waren. Europas Normen, sagt Bradford, "beherrschen die Welt". Eine Botschaft, die in Zeiten von Brexit, Migrationskrise und Rechtstaatskonflikt nur zu gern gehört wird.
Dass es den Brüssel-Effekt gibt und dass er heilsame Wirkungen entfaltet, ist unbestritten. Doch wie es so ist bei Arzneien: Das beste Medikament kann sich als schädlich erweisen, wenn es in zu großer Dosis verabreicht wird. Und genau das scheint gerade zu geschehen: Mit dem Hinweis auf den Brüssel-Effekt hat sich die Staatengemeinschaft in eine Regulierungsoffensive gesteigert, die kaum noch Grenzen kennt. Die EU erlässt Vorschriften, wo sie nicht zuständig ist. Sie regelt Sachverhalte, die längst geregelt sind. Sie schreibt neue Prüfverfahren vor, verlangt zusätzliche Nachweise und Berichte und folgt dem alten Bürokratenmotto: Ich verordne, also bin ich. Das Problem ist nur, dass die Kosten der Vorschriftenflut ihren Nutzen mitunter übersteigen.
Der Green Deal gilt als ehrgeizigster Klimaplan der Welt. Dennoch hat die EU kürzlich ein zweites, kaum weniger ambitioniertes Vorschriftenpaket auf den Weg gebracht, das denselben Zweck verfolgt. Mithilfe einer sogenannten Taxonomie sollen alle wirtschaftlichen Aktivitäten auf dem Kontinent in grün oder nicht grün eingeteilt werden, damit die Anleger klimafreundlich investieren können. Das ist erstens monströs und zweitens überflüssig, wenn der Green Deal gelingt; denn dann wird mit der Wirtschaft automatisch auch der Finanzmarkt grün. Und schließlich wird der Plan zur Farce, wenn die EU auch Gas- und Atomkraftwerke als ökologisch einstuft. Dann, so warnen inzwischen viele Umweltschützer, komme es zum "Gau für die Energiewende".
Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist nach den europäischen Verträgen weitgehend Sache der Mitgliedstaaten. Doch das hält die EU nicht davon ab, neue einheitliche Vorgaben für Mindestlöhne und Tarifverträge auf den Weg zu bringen. Das soll die Beschäftigten vor Ausbeutung schützen, bewirkt aber möglicherweise das genaue Gegenteil, so fürchten etwa Gewerkschafter in Dänemark und Schweden. Ihre Sorge: Während die neuen Vorgaben Niedriglöhnern kaum Vorteile bringen, gefährden sie das skandinavische Arbeitsmarktmodell, das weltweit als besonders fortschrittlich gilt.
Europas Firmen produzieren nicht nur Waren und Dienstleistungen, sondern auch jede Menge Berichte, Statistiken und Erklärungen für alle möglichen EU-Behörden. Viel zu viele, klagen Unternehmer. Nicht genug, so meint die Kommission, die jüngst beschlossen hat, knapp 50.000 Unternehmen zur Abgabe weiterer Publikationen im Zuge eines sogenannten Nachhaltigkeitsreportings zu zwingen. Was die neuen Ökoberichte dem Klima bringen, ist ungewiss, ihre Wirkung auf die Firmenbilanzen dagegen lässt sich genau beziffern. Allein im ersten Jahr, so schätzt die Brüsseler Behörde, werden Kosten von knapp fünf Milliarden Euro entstehen - und vor allem Mittelstandsbetriebe belasten, die über keine gut besetzten Stabsabteilungen verfügen.
Wer die Standards setzt, gewinnt den Markt. So lautete der Schlachtruf, unter dem die Propagandisten des Brüssel-Effekts auch ökonomisch reüssieren wollten. Hat sich eine Firma im Dickicht der EU-Regeln durchgesetzt, wird sie auch global erfolgreich sein. Das ist eine Logik, die in der Theorie allerdings weitaus besser funktioniert hat als in der Praxis. Dort war in den vergangenen Jahren eher ein anderer Zusammenhang zu beobachten: Die Europäer machen die Regeln - und die anderen das Geschäft.
Mit ihrer Datenschutz-Grundverordnung zum Beispiel hat die Staatengemeinschaft einen Weltstandard gesetzt. Doch in der Plattformökonomie spielen ihre Konzerne bis heute keine Rolle. Kaum irgendwo sonst gelten so hohe Abgasnormen wie in Europa. Die besten Elektroautos aber kommen aktuell aus China und den USA. Dass die EU bei der Vorschriftenproduktion an der Weltspitze steht, muss nichts Schlechtes sein.
Früher nutzte der Staatenbund das Brüsseler Regelwerk, um seinen Einfluss auszuweiten. Die EU dehnte sich nach Nord-, Süd- und Osteuropa aus. Sie begründete eine Zollunion mit der Türkei und schloss Handelsverträge mit Südkorea, Japan oder Vietnam. Heute pflegt sie lieber ihre Grundsätze, als Kompromisse einzugehen. Das hat schon zum Brexit beigetragen, der nicht nur Großbritannien, sondern auch den Kontinent schwächt. Aktuell liegt ein unterschriftsreifer Deal mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten auf Eis, die nicht alle EU-Forderungen zum Schutz ihrer Regenwälder erfüllen mögen. Nun bietet sich Peking als Partner an, was mit einiger Sicherheit weder Europa noch dem Klima nutzt. China dagegen baut seinen Einfluss beständig aus, erst in Asien, dann in Afrika und nun in Südamerika.
Das ist die andere Seite des Brüssel-Effekts: Die Fähigkeit eines Wirtschaftsraums, internationale Standards zu setzen, hängt von seiner ökonomischen Stärke ab. Wenn sie schwindet, verlieren auch die fleißigsten Bürokraten ihre Macht.
Quelle: spiegel.de vom 22.12.2021