Von Sven Becker
18.08.2023, 20.01 Uhr o aus DER SPIEGEL 34/2023
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Am 4. November des vergangenen Jahres ging bei Florian Toncar, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesfinanzminister, ein Hilferuf ein. Der Deutsche Unternehmensverband Vermögensberatung wies den FDP-Politiker ("Lieber Herr Toncar") auf Reformpläne in Brüssel hin: Die EU-Kommission erwäge "wohl ernsthaft", ein Provisionsverbot für Anlageberater einzuführen, schrieb Verbandschef Helge Lach.
Der Lobbyist ist zugleich Vorstandsmitglied beim Branchenriesen Deutsche Vermögensberatung AG (DVAG), der von dem Verbot besonders betroffen wäre. Die Finanzvertriebe dürften im Fall eines Verbots keine Provisionen mehr von Fondsanbietern oder Versicherungen kassieren, wenn sie deren Produkte vermitteln. Das gesamte Geschäftsmodell geriete in Gefahr.
Auf die Konsequenzen für die Finanzmärkte müsse er "sicherlich an dieser Stelle nicht weiter eingehen", schrieb Lach. Vielmehr bitte sein Verband "um Unterstützung der Bundesregierung". Der Brief schloss mit den Worten: "Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie sich wie bisher auch in dieser Sache engagieren."
In jenen Tagen landeten noch mehr Briefe von Finanzlobbyisten zum selben Thema auf dem Schreibtisch von Toncar. Sechs Monate später beerdigte die EU-Kommission ihre Pläne eines generellen Provisionsverbots vorerst. Was in der Zwischenzeit geschah, ist ein Lehrstück über die Macht der Finanzlobby.
Aus Dokumenten, die dem SPIEGEL und dem Portal Abgeordnetenwatch.de vorliegen, geht hervor, wie sich Vertreter von Banken und Finanzvertrieben erfolgreich gegen das Provisionsverbot wehrten. Wenige Wochen nach Eingang der Lobbybriefe schrieb Bundesfinanzminister Lindner (FDP) an seine Brüsseler Kollegin Mairead McGuinness, er sei "sehr besorgt" über die Pläne der EU-Kommission und halte sie für falsch.
Auch in Brüssel konnte sich die Branche auf mächtige Fürsprecher verlassen. Der einflussreiche EU-Abgeordnete und Wirtschaftsexperte Markus Ferber (CSU) sprach sich gegen das Provisionsverbot aus. Neben seinem Mandat übt Ferber eine Tätigkeit aus, die sein Engagement in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt: Er hat einen bezahlten Posten im Beirat der DVAG.
Die Firma war zuletzt einer der größten Parteispender und bedachte allein im Wahljahr 2021 Grüne, SPD, FDP und CDU mit sechsstelligen Beträgen. Über die Jahrzehnte hat der umsatzstärkste Finanzvertrieb des Landes zudem ein Netzwerk aus Beratern, Verbänden und Lobbyisten geknüpft, das bis in die höchsten Kreise der Politik reicht. Durch dieses Frühwarnsystem erfuhr das Unternehmen rechtzeitig von den Brüsseler Reformplänen - und konnte dagegen vorgehen.
Die Lobbyschlacht um die sogenannte EU-Kleinanlegerstrategie begann im Oktober vergangenen Jahres. In jenen Wochen sickerten die ersten Hinweise durch, dass Finanzkommissarin McGuinness das Vertriebsmodell der Finanzbranche infrage stellte. Die erfahrene Europapolitikerin aus Irland hatte zuvor eine Studie in Auftrag gegeben, wonach viele Produkte für Kleinanleger noch immer zu teuer und undurchsichtig seien.
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Egal ob in der Bankfiliale oder bei Finanzvertrieben - wer in Deutschland sein Geld anlegen will, landet in den allermeisten Fällen bei Finanzberatern, die auf Provisionsbasis arbeiten. Ihre Beratung ist gebührenfrei. Allerdings kassieren die Vermittler bei erfolgreichen Geschäftsabschlüssen eine Provision, etwa von einem Fondsanbieter, die als Preisaufschlag beim Kunden landet. Der Anreiz, möglichst teure Produkte zu vermitteln, ist hoch, da die Provisionen dann entsprechend höher ausfallen. Allein die DVAG kassierte im vergangenen Jahr über zwei Milliarden Euro an Provisionserlösen.
Die EU-Kommissarin erwog nun, Provisionen generell zu verbieten. Als Alternative bliebe oftmals nur noch Beratung gegen Honorar, ähnlich wie bei Rechtsanwälten oder Steuerberatern. Das Modell wird auch von Verbraucherschützern befürwortet, spielt im deutschen Markt bisher aber nur eine untergeordnete Rolle.
Entsprechend heftig wehrte sich die hiesige Finanzindustrie gegen die Ideen der EU-Kommission. Im November berichtete der Deutsche Unternehmensverband Vermögensberatung auf seiner Website über Gespräche mit Brüsseler Politikern zum Thema Provisionsverbot - jener Lobbyverein, der etwas später den Brief ans Bundesfinanzministerium schreiben sollte. Der Verband wurde 1995 von Reinfried Pohl, dem Gründer der DVAG, ins Leben gerufen. Nicht nur die Namen ähneln sich, auch das Personal überschneidet sich. Der aktuelle Verbandsvorstand besteht aus drei Managern der DVAG.
Der CSU-Abgeordnete Markus Ferber nahm an den Runden ebenfalls teil. Die Lobbyisten bezeichneten ihn als "politisches Schwergewicht", das für die Europäische Volkspartei die finanzpolitischen Themen im Wirtschafts- und Währungsausschuss koordiniere. Ferber sei jemand, der "kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn ihm ein Thema besonders am Herzen liegt". Der CSU-Politiker habe sich angesichts des geplanten Provisionsverbots "ernüchtert und kämpferisch" zugleich gezeigt und das Forum sogar ermuntert, "breiten Widerstand" zu leisten.
Ferber wurde zudem selbst aktiv. In einem Briefwechsel mit EU-Kommissarin McGuinness geißelte er ihre Reformvorhaben. Auf der Website des Europäischen Parlaments gibt er jedoch auch an, für den Beiratsposten bei der DVAG eine Vergütung zwischen 1001 und 5000 Euro monatlich zu erhalten. Die Einkünfte müssen im EU-Parlament nur stufenweise aufgeschlüsselt werden.
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Die Nebentätigkeit wirft Fragen nach Interessenkonflikten auf. Wie unabhängig kann ein Abgeordneter sein, der zugleich auf der Payroll eines großen Finanzvertriebs steht? Auf Anfrage erklärt Ferber, es handle sich bei dem Beirat um ein überparteilich zusammengesetztes Gremium, das "mit dem laufenden Geschäftsbetrieb nichts zu tun" habe.
Die DVAG teilt mit, sie verbinde mit der Beiratstätigkeit keine Erwartung. Die Sitzungen fänden "ein- bis zweimal im Jahr am Firmensitz in Frankfurt statt". Darüber hinaus stünden die Beiratsmitglieder "dem Vorstand der DVAG auch anlass- sowie themenbezogen beratend zur Seite". Ob dies auch bei der EU-Kleinanlegerstrategie der Fall war, lässt sie offen.
Ferber war nicht der einzige Unionsmann, zu dem DVAG-Vertreter in jener Zeit Kontakt aufnahmen. Im November vereinbarte Cheflobbyist Helge Lach auch ein Gespräch mit CDU-Chef Friedrich Merz. Der Termin fand einige Monate später statt, am 14. März. Zuvor hatte die Unionsfraktion im Bundestag eine Kleine Anfrage zum Provisionsverbot an die Regierung gestellt. Im einleitenden Text kritisierte sie das Vorhaben.
Bei dem Termin in der CDU-Parteizentrale bekam Friedrich Merz einen Scheck in Höhe von 100.000 Euro überreicht. Laut DVAG informierte Lach den CDU-Chef bei dieser Gelegenheit auch zum Sachstand des Provisionsverbots, aber nur "kurz" und "auf Anfrage" von Friedrich Merz.
"Einen Zusammenhang zwischen Spende und jedweder politischer Diskussion weisen wir von uns", so die DVAG. Die CDU wies eine unlautere Spendenannahme ebenfalls zurück. Die Großspende sei umgehend der Bundestagsverwaltung angezeigt und durch diese veröffentlicht worden, erklärte eine Sprecherin. Mit der Kleinen Anfrage habe sie nichts zu tun gehabt.
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Innerhalb der Bundesregierung war das generelle Provisionsverbot umstritten. Die Grünen befürworteten die Reform, Bundesfinanzminister Christian Lindner war dagegen. Obwohl es keine einheitliche Position gab, schrieb Lindner am 28. Dezember seinen Brief an die Brüsseler Kollegin McGuinness. Wenig später zitierte das "Handelsblatt" aus dem Schreiben unter der Überschrift: "Finanzminister Christian Lindner warnt EU vor Provisionsverbot".
Daraufhin wollte das Portal Abgeordnetenwatch.de auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes ebenfalls Einsicht in das Dokument nehmen. Doch das Ministerium stellte sich quer, weil eine Herausgabe geeignet sei, "das wechselseitige Vertrauensverhältnis von Europäischer Kommission und der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der EU nachhaltig zu schädigen".
Abgeordnetenwatch.de stellte zudem bei der EU-Kommission einen Antrag auf Herausgabe. Allerdings musste das deutsche Finanzministerium auch hier zustimmen. Lindners Beamte wehrten sich aber weiterhin gegen eine Veröffentlichung. Erst bei einem späteren Zweitantrag lenkte das Ministerium ein, und die Kommission konnte den Brief rausgeben.
Was an dem Schreiben war so heikel?
Es offenbart jedenfalls Lindners industriefreundliche Positionen: Der provisionsbasierte Vertrieb erlaube Kleinanlegern einen "schnellen Zugang" zu Finanzprodukten, ohne das Risiko, dafür bezahlen zu müssen, schrieb er an die Kommissarin. Die Art der Beratervergütung - also ob auf Honorar- oder Provisionsbasis - werde im Moment den Anlegern überlassen. Auch die Lobbyisten der Vermögensberater nennen in ihren Stellungnahmen gern die Vorteile der Wahlfreiheit.
Auf Anfrage teilt das Finanzministerium mit, Lindner vertrete seine Haltung zum Provisionsverbot schon "seit Langem". Im Übrigen sei das Ministerium nicht nur mit Interessenvertretern der Industrie im Austausch, sondern auch mit Verbraucherschützern und anderen "Stakeholdern".
Die finanzpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion hingegen kritisiert Lindners Schreiben an die EU-Kommissarin: "Es wäre schön, wenn Christian Lindner in offiziellen Briefen an die EU-Kommission differenzieren könnte, wann er als FDP-Parteivorsitzender spricht und wann für die gesamte Bundesregierung - oder eben auch nicht", sagt Katharina Beck.
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Die Haltung der Bundesregierung zu EU-Vorhaben hat stets großes Gewicht, insbesondere in der Finanzmarktpolitik, da das private Geldvermögen Deutschlands innerhalb der EU am größten ist. Mit seinem Brief machte Christian Lindner klar, dass ein Provisionsverbot mit ihm nicht zu machen sei. Da von den Ministern der Grünen und der SPD anschließend kaum Widerspruch zu hören war, konnte die Finanzkommissarin McGuinness bei ihren Plänen nicht auf die Unterstützung Deutschlands zählen.
Im Mai beschloss die EU-Kommission schließlich ihr Maßnahmenpaket zum besseren Schutz von Kleinanlegern - ohne ein generelles Provisionsverbot. Stattdessen will es die Kommission nun unter anderem mit mehr Transparenz und einzelnen Verboten versuchen und drei Jahre nach der Verabschiedung des Pakets evaluieren, ob es geholfen hat.
Bei einer Konferenz sagte Kommissarin McGuinness: "Wir haben auf diejenigen gehört, die uns sagen, dass ein vollständiges Verbot von Provisionen zum jetzigen Zeitpunkt disruptiv sein könnte."