Stand: 26.05.2021
Von Jan Philipp Burgard, Max Boenke, Martin Heller, Matthis Kattnig
Lesen Sie die wichtigsten Aussagen von Politik- und Islamwissenschaftler Hamed Abdel-Samad aus dem Videointerview hier im Transkript.
"Der Antisemitismus gehört zur Bildungspolitik in der arabischen Welt. Ich bin groß geworden mit dem Buch "Mein Kampf" von Hitler, einem Dauer-Bestseller in Ägypten. In den Moscheen und Medien verbreitet man Judenhass für die muslimische und die arabische Identität. Man muss sich von den Juden abgrenzen, um zu wissen, wo man steht.
In Deutschland kommt dazu noch eine weitere Komponente, die Identitätskomponente. Man lebt hier als junger Muslim und hat ein schlechtes Gewissen, dass man hier in relativem Wohlstand und Frieden lebt, während die Brüder und Schwestern in Palästina, aber auch im Irak, Syrien und Jemen eigentlich im Elend leben. Man denkt, man könnte etwas für sie tun, indem man auf die Straße geht, Juden angreift und sie hasst.
Man darf nicht vergessen, dass der Islamismus in Deutschland wächst und gedeiht, auch im Schatten dieser falsch verstandenen Toleranz, im Schatten dieses Multikulti-Projekts. Teil des Islamismus ist natürlich die Mobilisierung für den Nahost-Konflikt, die Mobilisierung gegen den Westen: Die Muslimbruderschaft macht das, Erdogan macht das, der Iran macht das, und die Hamas mit ihrer Organisation macht das, auch in Europa.
An deutschen Schulen verlassen jüdische Kinder die Schule aus Angst vor muslimischen Schülern, die sie hänseln und schlagen. Aber muslimische Schüler, die so was machen, bekommen nicht einmal einen Schulverweis.
Das ist erst mal ein Teil des Problems: Juden überlegen sich, entweder Deutschland zu verlassen oder sich hier zu verstecken. Das ist so fatal: Islamisten erobern die Straße, sie skandieren alle Schlachtrufe, die sie haben, und bewegen sich frei.
Das ist nicht das Land der Aufklärung. Das ist nicht das Land der Freiheit, von dem ich immer geträumt habe.
Man muss die jungen Muslime begeistern für das Thema Freiheit und ihnen erklären, dass sie eigentlich als Kanonenfutter für die Radikalen benutzt werden. Erdogan benutzt sie als Druckmittel gegen den Westen. Hamas und die Muslimbruderschaft benutzen sie als Kanonenfutter, sie wollen von ihrem Wutpotenzial profitieren, damit die Hamas am Ende ein paar mehr Spenden aus dem Westen bekommt oder ein paar Raketen aus dem Iran.
Ich will mit muslimischen Jugendlichen als Individuum umgehen und nicht als Vertreter einer Religion oder Vertreter einer Kultur. Als Menschen, die es verdient haben, in Menschenwürde, in Freiheit und im Wohlstand zu leben. Indem ich für sie einen Weg öffnen kann, dass sie die Freiheit und die Menschenrechte hier umarmen, dass sie auf Juden als Menschen blicken und nicht als Vertreter einer Religion oder als Vertreter Israels.
Gerade beim Thema Antisemitismus vermisse ich ein richtiges Engagement jenseits der Lichterketten, die es natürlich gibt. Aber das ist Ablasshandel, das löst kein Problem. Sondern, genauso wie ich eine klare Meinung zum Antisemitismus von rechts habe - das haben viele Deutsche mittlerweile -, haben aber nicht alle eine klare Meinung zum muslimischen Antisemitismus, und das erwarte ich von den Deutschen als Gesellschaft, das erwarte ich von den Medien und das erwarte ich von der Politik.
Quelle: welt.de vom 26.05.2021