Veröffentlicht am 11.11.2021 | Lesedauer: 8 Minuten
Von Henryk M. Broder
Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sagt bei Anne Will: "Momentan erleben wir ja wirklich eine Tyrannei der Ungeimpften, die über zwei Drittel der Geimpften bestimmen." Anne Will schaut irritiert auf, worauf Montgomery nachlegt: "Ja, ich benutze bewusst den Begriff der Tyrannei, denn in Ländern wie Portugal, in denen 97 Prozent geimpft sind, gibt es all diese einschränkenden Maßnahmen nicht mehr, weil man sie nicht mehr braucht."
Auf der langen Suche nach einem Land oder Ort, wo man das Coronavirus besiegt oder zumindest in den Griff bekommen hat, gab es schon etliche Stationen: Island und Israel, wo Datenschutz keine Rolle spielt, oder Rostock und Tübingen, wo zwei resolute und sympathische Bürgermeister mit einfachen, aber wirksamen Ideen zeitweise Erfolge vorzeigen konnten. Was Portugal angeht, so möchte ich daran erinnern, dass dieses Land, das nur mit Spanien eine gemeinsame Grenze hat, vor Kurzem noch ein Corona-Hotspot war, dem die EU mit der Entsendung von Ärzten und Sanitätern helfen musste. Zu sagen, der erstaunliche Wandel von einem Hochrisikogebiet zu einer praktisch Corona-freien Zone sei das Ergebnis einer hohen Impfquote, hört sich logisch an, ist es aber nicht. Eine Korrelation ist kein Beweis für eine Kausalität, bestenfalls ein Hinweis. Oder ein monokausaler Kurzschluss im Dienst der eigenen Erwartungshaltung.
Umgekehrt gibt es keine Erklärung dafür, warum ausgerechnet im bayerischen Miesbach die Inzidenzen die höchsten in ganz Deutschland sind. Derzeit liegen sie bei über 700. Aus dem Landratsamt heißt es, das Infektionsgeschehen sei "diffus", man könne es nicht mehr kontrollieren, eine Nachverfolgung der Kontakte finde nicht mehr statt, Quarantäne-Anordnungen würden nicht überprüft. Kurzum: Miesbach hat kapituliert.
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Am nördlichen Rand der Republik, im traditionell liberalen und weltoffenen Hamburg, will der Erste Bürgermeister der Hansestadt die Regeln für den Umgang mit Corona-Betroffenen neu definieren.
Die 2G-Regel, sagt Peter Tschentscher, müsse jetzt "in ganz Deutschland umgesetzt werden". Die "Ungeimpften" müssten sich darüber im Klaren sein, dass es auch für sie "schwer wird, in den nächsten Monaten am öffentlichen Leben teilzunehmen".
Das ist keine Warnung mehr, es ist eine Drohung, Tschentscher, von Beruf Arzt, hat bestimmt über die Durchführbarkeit einer solchen Maßnahme gründlich nachgedacht, das Für und Wider abgewogen, bis er zu dem Schluss kam, dass die Ungeimpften einer Lösung der Corona-Frage so im Wege stehen wie die Anophelesmücke dem Kampf gegen Malaria.
Wie er die Ungeimpften dazu bringen will, sich impfen zu lassen, lässt Tschentscher offen. Sein Bremer Kollege, Bürgermeister Andreas Bovenschulte, sagt, er setze grundsätzlich "auf den zwanglosen Zwang des guten Arguments", also Überzeugungsarbeit. Jeder habe "das Recht, sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden", aber nur "solange es keine gesetzliche Impfpflicht gibt".
Der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen sieht angesichts der "Welle der Ungeimpften" ein "riesiges Problem" darin, dass die Städte nicht wüssten, wo sie die Ungeimpften finden könnten. "Wir stochern da im Nebel." Deswegen fordert der OB der Ruhrmetropole "stadtteilscharfe" Informationen, die es ihm ermöglichen würden, "unsere Angebote entsprechend auszubauen". Was für eine dystopische Vorstellung! Wird es demnächst Meldestellen oder gar Sammelpunkte für Ungeimpfte geben? Nein, sagt der OB, die Informationen könnten "anonymisiert" erhoben werden. Ob die Impfungen dann ebenfalls unter Wahrung der Anonymität vorgenommen werden? Es scheint, als habe der Essener OB einen wichtigen Gedanken nicht ganz zu Ende gedacht.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich kein Impfgegner bin. Im Cov-Pass, den ich auf meinem Smartphone abgespeichert habe, steht, dass ich zweimal geimpft wurde und seit dem 20. Mai "vollständig" geschützt bin. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass "vollständig" nicht unbedingt "vollständig" bedeutet, also umfassend und ohne Ablaufdatum, wie man es auf jedem Joghurtbecher findet. Und deswegen war ich doch etwas überrascht, als es bei mir zu einem "Impfdurchbruch" kam.
Lesen Sie hier Henryk Broders Quarantänebericht:
Henryk M. Broder
Meine zwölf Tage in Corona-Quarantäne
Das ist der amtliche Ausdruck für eine überaus "seltene Ausnahme" - wenn bei einer "vollständig" geschützten Person Corona festgestellt wird. Aber so selten, wie es überall steht, scheinen die Ausnahmen nicht zu sein. Wären sie es, würde man nicht so viel über sie reden. Und überhaupt: Was heißt selten? Obwohl die Wahrscheinlichkeit für einen nuklearen Super-GAU, ausgelöst durch einen Tsunami vor Usedom, minimal ist, hat sich Deutschland aus der Atomenergie verabschiedet.
Ich hatte während meiner zweiwöchigen Quarantäne viel Zeit, darüber nachzudenken, was wir gerade erleben. Eine Pandemie, natürlich, einen Notstand, für den es keine Durchführungsverordnung gibt, eine globale Katastrophe, vielleicht auch den Beginn einer neuen Zeitrechnung - vor und nach Corona. Im Gegensatz zu allen, die uns seit bald zwei Jahren die Rückkehr zur "Normalität" versprechen, wenn wir nur Masken tragen, auf den Abstand achten, die Hände waschen und uns impfen lassen, ein drittes und, wenn es sein muss, auch ein viertes und fünftes Mal, bin ich sicher, dass es "Normalität" wie in den Tagen vor Corona nie mehr geben wird. Auch wenn im Sommer kommenden Jahres draußen wieder Kaffee in Kännchen serviert wird.
Die ganze Sache hat eine biblische Dimension. Ich würde mich nicht wundern, wenn morgen Millionen von Fröschen vom Himmel fallen oder Heuschreckenschwärme die Felder verwüsten würden. Es wäre nur die passende Kulisse für einen archaischen Brauch, der gerade Auferstehung feiert.
Bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 unserer Zeit haben die Israeliten am Vorabend von Jom Kippur, ihrem höchsten Feiertag, einen Bock "mit Sünden beladen" und "in die Wüste" geschickt.
In modernen Gesellschaften nennt man den Vorgang "Mobbing", es soll aber Naturvölker geben, die noch heute solche Bräuche pflegen. Der "Sündenbock" hat ein kurzes Leben, aber eine lange Tradition.
Bis vor Kurzem stand eine große Auswahl an Sündenböcken zur Verfügung. Juden, Homosexuelle, Hexen, Hugenotten, Asphaltliteraten, Kommunisten, Naturisten, Pornografen, Revoluzzer, Wehrkraftzersetzer, kurzum: "Pinscher, Uhus und Banausen", wie es Ludwig Erhard treffend zusammenfasste.
Im Zuge der Emanzipation und Inklusion haben sich "Respekt" und "Wertschätzung" auch gegenüber kleinen und kleinsten Gruppen etabliert, die ihre subkulturellen Identitäten intensiv pflegen und aggressiv verteidigen. Wer sich über irgendeine Minderheit lustig macht, riskiert es, an den Pranger gestellt zu werden, und wenn es nur um Frauen mit Doppelnamen geht oder Männer, die gerne Damendessous tragen. Wer zugibt, dass er (oder sie) als Kind "Indianerhäuptling" werden wollte, wird genötigt, noch Jahrzehnte später Selbstkritik zu üben. Der Vorwurf der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" schwebt im Raum wie ein Ufo über dem Silbersee.
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Noch einmal: Ich bin nicht gegen das Impfen, im Gegenteil. Ich fände einen Impfzwang richtig, vorausgesetzt, er gilt für alle. Ich kann nur das verlogene Gerede nicht mehr ertragen, es werde keinen Impfzwang geben, während er de facto eingeführt wird, weil der Weg zu einem Ende der Pandemie über eine hohe Impfquote führt. Sagt man.
In Deutschland ist weder die Quote noch die Inzidenz das Problem, das sind nur Zahlen, die man beliebig interpretieren kann. Corona stellt eine Kränkung für eine Gesellschaft dar, die jeden "Impfnationalismus" (Laschet) ablehnt, bis vor Kurzem aber stolz darüber war, "dass wir so gut durch die Krise gekommen sind". Es kann doch kein Zufall sein, dass der beste Impfstoff gegen Corona in Deutschland entwickelt wurde, bei Biontech in Mainz, wobei bis jetzt kaum jemand aufgefallen ist, dass die Adresse des Unternehmens "An d. Goldgrube 12" lautet.
Deutschland will Vorbild und Vorreiter beim Umweltschutz sein, die ganze Welt auf den 1,5-Grad-Pfad führen und schon 2045, noch vor China und Indien, "klimaneutral" werden.
Quelle: Welt.de