Ein Kommentar von Lenz Jacobsen
Politikredakteur bei ZEIT ONLINE mit Schwerpunkt Demokratie
12. Dezember 2021, 6:36 Uhr 1.186 Kommentare
Man kommt sich fast ein bisschen blöd vor, irgendwie zu spät dran und unangenehm schlecht gelaunt. Ja, die neuen Regierungsfraktionen haben schon eine Branchenimpfpflicht beschlossen und ein Gesetzgebungsverfahren für eine allgemeine Impfpflicht angekündigt, alles geht seinen Gang, aber - sorry für die Störung - fehlt da nicht noch was? Eine Entschuldigung zum Beispiel für den eklatantesten Wortbruch in der jüngeren Geschichte der deutschen Politik?
Es soll hier nicht darum gehen, ob eine allgemeine Corona-Impfpflicht richtig ist, ob ihre epidemiologischen Vorteile diesen Eingriff in die Freiheit des Einzelnen rechtfertigen. Ob die zögerliche Impfbereitschaft in Deutschland absehbar war oder nicht. Sondern allein um die allzu geschmeidige Nonchalance, mit der diese 180-Grad-Wende vollzogen wird. Wenn jetzt die allgemeine Impfpflicht kommt, war es doch ein Fehler, diese vorher kategorisch und absolut auszuschließen, wie es die hochrangigsten Politiker dieses Landes getan haben.
Schon am 16. Mai 2020 sagte der Kanzleramtsminister und Mediziner Helge Braun auf die Frage, ob es eine Impfpflicht geben werde: "Nein. Diese Diskussion verstehe ich nicht." Kein Konjunktiv, kein "hoffentlich", kein "ich glaube" - sondern eine definitive und verbindliche Garantie. Im Februar 2021 und noch mal im Juli sagte Brauns Chefin, Kanzlerin Angela Merkel, in Interviews, dass man "zugesagt" habe, dass es keine Impfpflicht geben werde. Gesundheitsminister Jens Spahn ließ sogar ein Sharepic für Facebook basteln mit diesem Versprechen, in das auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder einstimmte. SPD-Corona-Experte Karl Lauterbach erklärte, die Impfung sei entweder gut, und würde dann auch freiwillig angenommen, oder sie sei einfach zu schlecht. Eine Impfpflicht sei "daher nie sinnvoll". Und der CDU-Altvordere und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erklärte kategorisch:
Unglücklicherweise fällt das gebrochene Impfpflichtversprechen mit einem Regierungswechsel zusammen, weshalb die Ausrede naheliegt, dass sich die neue Regierung nicht für die falschen Versprechen der alten rechtfertigen muss. Aber so einfach ist es nicht. Erstens ist beispielsweise Markus Söder noch im Amt, der nun erklärt: "Lassen Sie uns in Deutschland endlich eine Impfpflicht einführen." Und bei Angela Merkel ist nur formal schon Privatsache, wenn sie nun öffentlich sagt, sie würde mittlerweile für eine Impfpflicht stimmen. Natürlich hat das Wort der Langzeitkanzlerin auch jetzt noch Wirkung.
Zweitens haben auch Vertreter der Ampel-Parteien eine Impfpflicht abgelehnt. Karl Lauterbach ist jetzt Gesundheitsminister und setzt sich ebenso für eine Impfpflicht ein wie Christian Lindner, der noch vor Wochen selbst jene Branchenimpfpflicht "aus verfassungsrechtlichen Gründen für hochproblematisch" hielt, die seine Fraktion diese Woche im Bundestag mitbeschlossen hat.
Und drittens: Warum sollten politische Versprechen nur für eine Legislaturperiode gelten? Der Staat ist auch bei einem Regierungswechsel seinen Bürgerinnen und Bürgern wenn schon keine Konsistenz, dann doch die Rechenschaft und Nachvollziehbarkeit seiner Entscheidungen schuldig. Es reicht nicht, die Impfpflichtwende knapp damit zu erklären, dass gute Politik nun mal auf veränderte Realitäten reagieren muss, wie es beispielsweise FDP-Chef Lindner tut. Ja, das muss sie, und seine Meinung auch ändern zu können, ist eine für funktionierende Demokratien existenzielle Fähigkeit. Aber wer jetzt mit der Unabsehbarkeit von Politik argumentiert, der hätte nicht vorher absolute Garantien abgeben sollen. Sag niemals nie.
Was ist denn mit jenem Schild auf einer Querdenker-Demo, auf dem Spahn mit Teufelshörnern zu sehen ist und dem Zitat "Niemand hat die Absicht eine Impfpflicht einzuführen!", in Anlehnung an das Mauerbau-Zitat von Walter Ulbricht? Was soll man diesen Demonstranten entgegnen? Sie scheinen ja, wenn auch sonst nicht, in diesem Detail recht zu behalten. Das gebrochene Impfpflichtversprechen dürfte bald die Bazooka im sonst spärlichen argumentativen Arsenal all jener sein, die eh der Meinung sind, dass man Politikerinnen nicht glauben kann. Dass die die da oben alle Lügner sind.
Müsste die Politik mit ihrer Kehrtwende nicht offen umgehen, um diesen Schaden zumindest zu lindern? "Wir werden uns viel verzeihen müssen", lautet der längst berühmte und weise Satz von Jens Spahn. Aber wie soll man Fehler verzeihen, die nicht mal zugegeben werden? Wo soll sie herkommen, die viel beschworene Fehlerkultur in der Politik, wenn die wichtigsten Politikerinnen und Politiker auch die offensichtlichsten Fehler nicht als solche eingestehen?
Jens Spahn, immerhin, traut sich. Er sagte bei seinem Abschied aus dem Amt: "Ich habe in dieser Pandemie auch manches falsch eingeschätzt, auch Fehler gemacht." Und Kevin Kühnert sagt zum Impfpflichtversprechen: "Das ist nicht die klügste Entscheidung gewesen, dass so viele von uns, ich nehme da niemanden aus, das so klar ausgeschlossen haben." Er habe gelernt, "dass man mit Ausschließeritis und endgültigen Festschreibung sehr vorsichtig sein sollte." Das ist noch keine Bitte um Entschuldigung, aber fast.
Wenn also spätestens zu Beginn des neuen Jahres die Debatte auch über eine allgemeine Impfpflicht wirklich anläuft, dann sollten als Erstes alte und neue Verantwortliche gemeinsam und öffentlich einen staatlichen Irrtum eingestehen. Warum sollte es nicht, beispielsweise, einen letzten gemeinsamen Auftritt von Scholz und Merkel, vielleicht noch Spahn und Lauterbach dazu geben, bei dem sie die Bürgerinnen um Verzeihung bitten dafür, ihr Versprechen brechen zu müssen? Ein starker Staat steht auch zu seinen Fehlern. Nicht, um sie ungeschehen zu machen, sondern um seinen Bürgern das Verzeihen zu ermöglichen. Erst das ermöglicht beiden Seiten, sich der Zukunft zuzuwenden, statt in den Kämpfen der Vergangenheit hängen zu bleiben.
Quelle: Zeit.de