Corona-Aufbaufonds der EU :

Wer braucht das Geld wirklich?

Von Hendrik Kafsack, Brüssel

Aktualisiert am 22.06.2020

Erst fürchteten die Osteuropäer, sie müssten den Preis für den Wiederaufbau nach der Corona-Krise zahlen. Nun freut sich besonders Polen über den geplanten Verteilschlüssel. Dessen Kriterien finden aber nicht alle fair.

Die Polen können ihr Glück immer noch kaum fassen. Wochenlang plagte sie die Sorge, sie und die anderen Osteuropäer würden den Preis für den Wiederaufbau der EU nach der Corona-Krise zahlen. Schließlich hat die gesundheitliche, aber auch die ökonomische Krise vor allem den Süden des Kontinents getroffen. Es schien nur logisch, die Transferzahlungen von Osten nach Süden umzuleiten.

Seit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihren Vorschlag für ein 750-Milliarden-Euro-Wiederaufbaupaket vorgelegt hat, ist jedoch klar: Nicht nur Polen, sondern gleich eine ganze Reihe von osteuropäischen Staaten gehören sogar zu den Gewinnern des Pakets.

Mit 64 Milliarden Euro liegt Polen hinter den beiden Hauptempfängern Italien (173 Milliarden) und Spanien (140 Milliarden) auf dem dritten Platz. Deutschland bekommt rund 30 Milliarden Euro. Kein Wunder also, dass aus Polen bei der ersten Aussprache der Staats- und Regierungschefs auf ihrem Video-Gipfel am Freitag kein Wort der Kritik an der Verteilung der Aufbaumittel zu hören war. Auch die Bulgaren und Kroaten können zufrieden sein. Tatsächlich gehören die beiden Länder, wenn man die Hilfen ins Verhältnis zu den abschätzbaren wirtschaftlichen Schäden der Corona-Krise setzt, sogar noch vor Polen zu den Hauptprofiteuren des Wiederaufbaupakets, wie Analysen der Brüsseler Denkfabrik Bruegel oder des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gleichermaßen zeigen.

Auf dem vierten und fünften Platz folgen dann Rumänien und Lettland. Spanien und Italien landen nur noch im Mittelfeld. Am wenigsten profitieren Belgien, Frankreich und Irland. Zum Vergleich: Der ökonomische Schaden der Krise ist in Frankreich etwa genauso groß wie in Rumänien und Lettland. Frankreich erhält auch 93 Milliarden Euro. Das entspricht aber gerade einmal zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Rumänien und Lettland wiederum erhalten Transfers von zehn Prozent ihrer Wirtschaftsleistung.

Für die anderen "Chefs" aber gehört die Verteilung der EU-Hilfen inzwischen neben dem Volumen des Wiederaufbaupakets und der Frage, wie viel Geld davon als nicht zurückzuzahlender Zuschuss fließen soll, zu den am stärksten diskutierten Punkten. "Auch ich habe daran Zweifel geäußert", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Videokonferenz. Unstrittig ist nur, dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen im Zentrum stehen sollen, und nicht etwa die Zahl der Corona-Toten. Die Kritik kommt aus zwei Ecken. Zum einen gibt es auch in Osteuropa Staaten wie Ungarn und die Tschechische Republik, die ihrer Ansicht nach zu wenig Geld bekommen. "Die Kriterien des Wiederaufbauplans sind maßgeschneidert für die Länder, die nicht so verantwortungsvoll waren wie wir - bei Verschuldung, Haushaltsdisziplin, Arbeitslosigkeit", sagte der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis jüngst.

Zum anderen stört allen voran die "sparsamen Vier", aber auch Finnland und Deutschland, dass der Verteilungsschlüssel für die Hilfen zumindest auf den ersten Blick nichts mit der Krise zu tun hat. "Was hat die Arbeitslosenquote von 2015 mit der Corona-Krise zu tun?", fragte ein niederländischer Diplomat. Merkel mahnte: "Wir müssen versuchen, die Schäden so weit wie möglich zu beziffern, die durch die aktuelle Krise entstanden sind." Die Hilfen sollten dann daran geknüpft werden.

Die Kommission will die nicht zurückzuzahlenden Zuschüsse aus dem Wiederaufbaufonds, der mit einem Volumen von 560 Milliarden Euro den Kern des Gesamtpakets bildet, nach drei Kriterien verteilen: der Bevölkerungsgröße, der Wirtschaftskraft sowie der Arbeitslosenquote der Jahre 2015 bis 2019. Die Folgen der Krise selbst spielen keine direkte Rolle. Die Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass die Arbeitslosigkeit in den fünf Jahren vor Krisenbeginn eine so große Rolle spielen soll. Die Europäische Kommission verteidigt ihren Ansatz. Neben den unmittelbaren Folgen der Corona-Pandemie müsse auch berücksichtigt werden, wie widerstandsfähig die Volkswirtschaften der Länder gegen derartige Schocks seien, sagte Kommissionspräsidentin von der Leyen nach dem Video-Gipfel. "Und die Arbeitslosenquote der vergangenen Jahre spiegelt das sehr gut wider."

Das Wiederaufbaupaket müsse nun Reformen anstoßen, um die tiefer liegenden Gründe für diese fehlende Widerstandsfähigkeit anzugehen. Von der Leyen gestand ein, dass es in dieser Frage Diskussions- und Erklärungsbedarf gebe. Im Übrigen habe die Kommission die Verteilung noch einmal auf Basis ihrer Frühjahrsprognose, in der sich die Folgen der Corona-Krise für die Wirtschaftsentwicklung schon niederschlügen, durchgespielt. An der Verteilung habe das kaum etwas geändert - die Analysen von Bruegel oder IW zeichnen jedoch ein anderes Bild.

Erfahrene Haushaltsfachleute in der Europäischen Kommission sagen denn auch hinter vorgehaltener Hand, es sei letztlich wie immer in Brüssel, wenn es ums Geld gehe. Man überlege zuerst, wer das Geld bekommen solle, und suche sich anschließend den passenden Schlüssel, um das zu rechtfertigen. Dass Polen so viel Geld erhalten soll, dürfte tatsächlich vor allem taktische Gründe haben; die Kommission hat damit einen Keil zwischen die vier Visegrad-Staaten getrieben. Mit dem Geld für Länder wie Rumänien oder Bulgarien wollte von der Leyen wohl sicherstellen, dass das Wiederaufbaupaket auch im übrigen Mittel- und Osteuropa ausreichend Unterstützung erfährt. So oder so werde es schwer sein, den Verteilungsschlüssel noch grundlegend zu ändern, heißt es in der Kommission. Schließlich laufe das unweigerlich darauf hinaus, Mitgliedstaaten - wie Polen - etwas wegzunehmen, was neue Widerstände provoziere und die angestrebte schnelle Einigung erschwere.

Hinzu kommt das grundsätzliche Problem, dass die Schäden der Corona-Krise für die Wirtschaft in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten momentan noch nicht abzuschätzen sind, wie man auch in der Bundesregierung zugesteht. Niemand habe eine richtige Lösung für das Problem, heißt es dort. Jeder wisse, dass das Ausmaß sich erst im Verlauf dieses Jahres zeigen werde. Wie das mit ökonomischen Daten eben sei, werde man sie vielleicht erst im kommenden Jahr haben. Darauf könne die EU jedoch nicht warten.

Es soll noch vor der Sommerpause die Einigung der Mitgliedstaaten geben, damit das Paket Anfang des nächsten Jahres seine volle Wirkung entfalten kann, darin sind sich die Staats- und Regie-rungschefs weitgehend einig. Ratspräsident Charles Michel hat für Mitte Juli einen Sondergipfel angekündigt. Nur der niederländische Regierungschef Mark Rutte sagte nach dem Video-Gipfel, es würde auch nichts fürchterlich schief laufen, wenn es keine Einigung bis Mitte Juli und noch weitere Gipfeltreffen "im Sommer oder später" gebe.

Letztlich führt damit kein Weg vorbei an Daten aus der Zeit vor der Corona-Krise für die Verteilung der Hilfen. Eine Lösung könnte sein, eine Revisionsklausel einzubauen. Die Kommission könnte dann auf Basis neuer Daten im kommenden Jahr die Verteilung der Hilfen zumindest nachjustieren. Die Kommission selbst setzt auf einen pragmatischeren Ansatz: Sie will die EU-Staaten, die sich nicht ausreichend bedacht fühlen, mit mehr Geld aus dem klassischen EU-Haushalt- 2021 bis 2027, auf dem das Paket aufsetzt, kompensieren.


Quelle: faz vom 22.06.2020