Stand: 20.10.2022 | Lesedauer: 11 Minuten
Von
Alexander Dinger, Ulrich Kraetzer
Quelle: Alexander Dinger
Selten demonstriert der Staat seine Macht derart eindeutig und unmissverständlich. Am Mittwochmorgen rückten fast 100 schwer bewaffnete Polizisten, vermummt und mit Polizeihunden an der Leine, in den Graefekiez in Berlin-Kreuzberg ein. Großeinsätze sind in der Hauptstadt zwar fast schon an der Tagesordnung. Dieses Mal ging es aber nicht um die Räumung eines besetzten Hauses. Es sollte auch keine Islamistenzelle ausgehoben oder ein Rocker-Kommando festgenommen werden. Es ging um eine Wohnungsräumung.
Normalerweise erscheint in solchen Fällen ein Gerichtsvollzieher. Steht Ärger an, wird die Räumung vielleicht auch von einigen Polizisten begleitet. An diesem Mittwoch allerdings ging es um eine besondere Wohnung. Deren Bewohner entstammen dem Clan-Milieu - und die Siedlung, in der die Wohnung liegt, wird in Polizeikreisen als besonders problematisch eingeschätzt. Szenekundige Beamte berichten, dass sich hier eine neue Form der Clan-Kriminalität etabliert habe. Eine Form, die das tradierte Machtgefüge des Milieus ins Wanken bringen könnte.
Quelle: Alexander Dinger
Wer an Clans denkt, hat spektakuläre Verbrechen im Kopf und bekannte Namen. Man denkt an die Remmos und an die Einbrüche ins Berliner Bode-Museum oder in das Grüne Gewölbe in Dresden. Man denkt an die Miris und das Drogen- und Rotlicht-Milieu. Vielleicht fallen einem die Abou-Chakers ein, deren Anführer Arafat Abou-Chaker sich vor dem Berliner Landgericht seit mehr als zwei Jahren einen spektakulären juristischen Schlagabtausch mit dem Gangster-Rapper Bushido liefert.
Bisweilen geht es in den Berichten über das Treiben der Clans auch um Messerstechereien und andere Gewalttaten. Immer häufiger geht es aber um Villenanbauten, für die es keine Baugenehmigung gab, oder um Zwangsversteigerungen von Immobilien, die mit illegal erworbenem Vermögen gekauft worden sein sollen. Um Taten also, die dem Alltag entrückt zu sein scheinen.
Haben die Clans also ihren Schrecken verloren? Wer sich in den Problemvierteln umhört und sich mit Polizisten unterhält, die die Clan-Mitglieder nicht nur aus Vermerken und Tätigkeitsberichten, sondern vom Dienst auf der Straße kennen, weiß, dass die Berichterstattung über die "Clan-Promis" die tatsächlichen Probleme übertüncht haben. Das zeigt sich in Duisburg oder Bremen. In Essen oder Hamburg. Und geradezu exemplarisch zeigt es sich im Graefekiez in Berlin-Kreuzberg.
Lesen Sie auch
Neuköllner Clankriminalität
Zwei tote Brüder, ein Milieu
Was den Sicherheitsbehörden hier Sorgen bereitet, ist keine Goldkettchen- und Rolex-Kriminalität, kein Schaulaufen von Gangster-Größen, die Probleme über ihre Anwälte klären lassen. Es ist eine brutale Realität, in der "die Straße" regiert. Eine Realität, in der alte Machtgefüge aufgebrochen werden und den "Alten" nicht mehr bedingungsloser Respekt gezollt wird. Eine Realität, in der Angriffe auf die "normale" Wohnbevölkerung nicht nur hingenommen - sondern geradezu genussvoll zelebriert werden.
Die neue Generation schert sich nicht darum, wer aus welchem Clan kommt. Kooperiert wird mit jedem, der das eigene Vorankommen sichert. Das Vorgehen ist arbeitsteilig und wirkt so professionell als wäre der Nachwuchs schon seit Jahrzehnten im Geschäft.
Was die Angehörigen dieser neuen Generation im Graefekiez in Kreuzberg eint: Sie alle sind im selben Wohnblock aufgewachsen - der Werner Düttmann-Siedlung.
So auch in der Graefestraße. In ihrem nördlichen Teil kann man in Galerien "Contemporary Woodblock Printing" oder "Fine Art Layering"-Werke für mehr als tausend Euro erwerben und Studentinnen und Studenten dabei beobachten, wie sie in Cafés vor ihren MacBooks sitzen und an Cappuccino mit Hafermilch nippen.
Quelle: Kraetzer/Dinger
Wer behauptet, der Wohnblock läge in einem Ghetto, hat die Eigentümlichkeiten der Berliner Kiezstrukturen nicht verstanden. Sozialsiedlungen und Hipster-Viertel, Junkie-Treffs und beschauliche Straßenzüge mit Öko-Kindergärten liegen in der Hauptstadt oft nur wenige hundert Meter auseinander.
Die Werner-Düttmann-Siedlung im südlichen Teil der Graefestraße ist dagegen regelmäßig von Sirenengeheul erfüllt. Polizisten bezeichnen das Neubaugebiet als "problematisches Viertel". Ein Teil seiner Bewohner sei "polykriminell". Im ansonsten durchgentrifizierten Kreuzberger Kiez sei die WDS "ein Fremdkörper".
Erbaut wurde die Werner-Düttmann-Siedlung zwischen 1982 und 1984. Sechs Gebäudereigel. 40 Aufgänge. 577 Wohnungen. Im Juli dieses Jahres wurde das Ensemble von einer landeseigenen Wohnungsgesellschaft gekauft.
Lesen Sie auch
Clans in Deutschland
Geduldete Kriminalität
Die Probleme gab es kostenlos dazu. Laut Sicherheitsbehörden leben in dem Kiez 15 Personen zwischen 17 und 30 Jahren mit einem behördeninternen Vermerk "Clankriminalität", hinzu kommen Hunderte Personen im Umfeld. Das ergebe in der Summe ein Klima der Destruktion, der Bedrohung und der strukturellen Kriminalität. "Die Gruppe ist durch und durch kriminell", sagt ein Beamter. Die Grenzen zwischen Jugendkriminalität und Clankriminalität seien dabei fließend. Und die Gruppe habe viele Unterstützer. Handyvideos aus dem Kiez zeigen an die hundert Personen, die jubelnd durch die Straßen ziehen, als einer von ihnen aus dem Gefängnis entlassen wurde.
In einer polizeiinternen Statistik, die dieser Zeitung vorliegt, listet die Polizei für das Gebiet für dieses Jahr bis Ende Juli auf: zwei Brandstiftungen, drei Erpressungen, 54 Körperverletzungen, 18 Nötigungen, 8 Raubstraftaten, 40 Sachbeschädigungen, 38 Drogendelikte, 21 Mal Taschendiebstahl, zwei Sexualstraftaten und drei Widerstände.
Die Konflikte in der Werner-Düttmann-Siedlung eskalierten erstmals im September 2018. Damals gingen Angehörige der Großfamilien W. und C. bewaffnet mit Schlagstöcken, Messern und Pfefferspray aufeinander los. Die Polizei konnte die Lage erst durch einen Großeinsatz beruhigen.
So ging es weiter. Einige Streitigkeiten klärten die Clans durch sogenannte "Friedensrichter". Anfang 2021 erlitt eine Person einen Messerstich. Die zerstochenen Autoreifen und angezündeten Gegenstände fielen da kaum noch ins Gewicht.
Dann die nächste Eskalation. Im Mai 2021 wurde in Neukölln ein Geldtransporter überfallen, einer der Tatverdächtigen angeschossen. Laut Berliner Landeskriminalamt wohnen alle Beschuldigten im Graefekiez. Der Haupttäter, Mustapha W. (20), wurde zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Gegen die Beschuldigten wird auch wegen weiterer Überfälle ermittelt. Im Kiez wird Mustapha W. offenbar als Held verehrt. An den Fassaden finden sich immer wieder Graffiti, auf denen "Free M." steht (dt.: Freiheit für Mustapha).
Quelle: Morris Pudwell
Zum bislang schwersten Verbrechen mit mutmaßlichem Bezug zum Graefekiez kam es am 30. April dieses Jahres. In den Abendstunden kam es auf den Neuköllner Maientagen zu einem Streit zwischen zwei Gruppen. Bei dieser Auseinandersetzung wurde Mohamed Rabih, ein bekannter Berliner Intensivtäter, erstochen. Jihad W. (22) und Omar O. werden als Tatverdächtige per Haftbefehl gesucht. Jihad W. ist der Bruder von Mustapha W. und gilt als Anführer der "Graefe-Jungs". In der Wohnung, in der die Polizei zur Räumung anrückte, hat er kürzlich noch gewohnt.
Lesen Sie auch
Mord auf Berliner Rummel
Die getötete Clangröße galt nach Aktenlage als "Bewährungsversager"
Was ist da also los? Will man sich einen Eindruck vom Alltag in der Siedlung verschaffen, kann man Einsatzberichte der Polizei lesen und die Vorstrafenregister ihrer auffälligsten Bewohner studieren. Oder man spricht mit einem Mitarbeiter des Hausmeisterteams der Siedlung.
Seinen Namen will der Mann, leichter Bauchansatz und freundlicher Blick, lieber nicht in der Zeitung lesen. Er selbst habe hier ja noch nie Ärger bekommen. So solle es bleiben. Er sei daher wohl besser, mit der gebotenen Diskretion über die Zustände hier zu sprechen.
Tagsüber sei es meist ruhig hier, erzählt er. Aber am Abend, da würden die Kinder und Jugendlichen auf dem zentralen Platz der Siedlung mit den Elektromopeds rumfahren, die man in Berlin seit einigen Jahren an jeder Ecke leihen kann. Erlaubt sei das natürlich nicht. Aber das sei nicht das Problem. Schwierig werde es aber, wenn die Jugendlichen "dermaßen rumbrettern, dass die Eltern ihre kleinen Kinder in Sicherheit bringen müssen".
Quelle: Kraetzer/Dinger
Dann zieht der Mann seinen Blaumann zurecht und zeigt auf eine schwarz verrußte Hauswand. "Da haben die einen dieser Elektro-Roller vor Kurzem angezündet", sagt er. Brennen würde es hier ohnehin immer mal wieder. Weihnachten habe der Weihnachtsbaum in Flammen gestanden. Zu Silvester würden sich die Jugendliche mit Böllern bewerfen. "Dann spielen sie Krieg".
Gibt es im Kiez keinen Sicherheitsdienst? Klar, sagt der Mitarbeiter des Hausmeisters. Die Firma habe aber immer wieder gewechselt. Nach ein paar Wochen sei es den Security-Leuten immer "zu krass" geworden. Dann hätten sie das Weite gesucht. Das sei ja logisch. Die Jugendlichen, die hier den Ton angäben, wollten unter sich bleiben. "Die machen hier ihre Geschäfte und die Security stört da eben."
Quelle: Kraetzer/Dinger
Das Fenster der Räume, in denen der Sicherheitsdienst untergebracht sei, müsse auch mal wieder repariert werden. "Das haben die Jungs vor Kurzem mit einem Feuerlöscher zertrümmert." Am Tag darauf sei auf dem Balkon des Sicherheitsdienstbüros eine Rauchbombe explodiert.
In dem Lagebericht der Polizei heißt es, dass Anwohner sich in ihrem Alltagsleben stark beeinträchtigt fühlten. Die meisten erstatteten aber keine Anzeige. Aus Angst. Die Sachbeschädigungen würden hauptsächlich von unter 14-Jährigen begangen, die keinen Respekt vor der älteren Generation zeigten. Viele Straftaten würden zudem außerhalb des Kiezes verübt. Das mache die Lagebeurteilung schwierig.
Mit den wechselnden Örtlichkeiten wechseln auch die Zuständigkeiten. Dieses Phänomen gebe es auch in anderen Kiezen. "Es gibt viele Jugendgruppen in Berlin, die regelrecht auf Streifzug durch die Stadt gehen und sich sogar verabreden", sagt ein szenekundiger Beamter dieser Zeitung. Als Beispiel nennen Ermittler etwa die Täter, die im vergangenen Jahr eine Bäckerei an der Neuköllner Karl-Marx-Straße überfielen. Auch hier führen Spuren in den Graefekiez.
Lesen Sie auch
Berliner Unterwelt
"Diese Banden sind ein großes Problem, weil sie eine hohe Brutalität aufweisen"
Zu behaupten, die Politik habe die Werner-Düttmann-Siedlung und ihre Bewohner der Polizei, vor allem aber sich selbst überlassen, wäre unfair. Am zentralen Platz der Siedlung können die Bewohner im "Dütti-Treff" zusammenkommen. Die Sprechstunde der "Lernpaten" ist immer donnerstags um 18 Uhr. Im Schaukasten wirbt ein Poster für das nächste Treffen vom "Nachbarschafts-Stammtisch". Das Motto der Runde: "Wir plaudern über unseren Kiez und was uns bewegt."
Keine hundert Meter weiter, an der Ecke von Urban- und Graefestraße, können die Jugendlichen des Kiezes den "Drehpunkt" ansteuern, das Café oder die Werkstatt besuchen oder einfach nur Kicker oder Billard spielen. Um die Bildungschancen kümmern sich die Mitarbeitenden der "Bildungsoase". Am anderen Ende der Siedlung künden die Überbleibsel eines zerfetzten Schildes davon, dass die Europäische Union in dem Kiez "wohnumfeldverbessernde Maßnahmen" finanziert hat.
Bringt all das etwas? Ja, natürlich! So erzählen es zumindest Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in dem Kiez. Ja, sie hätten mit Vandalismus zu kämpfen, sagen sie. Und, ja, in der Siedlung wohnten auch Jugendliche und junge Männer, die immer wieder schwere Straftaten begingen.
Aber die meisten Bewohner lebten trotzdem sehr gerne in der Düttmann-Siedlung. Und es stimmt ja: Der tosende Lärm der Verkehrsadern ist in der Siedlung nicht zu hören. Die weitläufigen Grünanlagen laden zu einem, wenn auch kurzem, Spaziergang. Der Platz in der Mitte der Siedlung bietet Gelegenheit zu einem Plausch unter Nachbarn. Als Kulisse für ein Gangster-Rap-Video bietet sich die Werner-Düttmann-Siedlung nicht an.
In der Berichterstattung käme all das zu kurz, sagen die Sozialarbeiter. Stattdessen würden immer wieder Klischees bedient. Doch nicht jeder Jugendliche mit einem Migrationshintergrund sei, nur weil er mal negativ auffalle, gleich ein Clan-Mitglied. Vor allem aber: Die Leidtragenden der schwierigen Verhältnisse hier seien nicht Angehörige der "weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft". "Die Leidtragenden sind die, die hier wohnen", sagt einer der Sozialarbeiter. "Und die gehören selbst zur Community der Migranten."
Quelle: WELT
Die Frage ist nun, wie weit sich die Spirale noch dreht. Und ob die Werner-Düttmann-Siedlung womöglich mehr ist als nur eine Brutstätte einer neuen Form der Clan-Kriminalität. Einiges deutet daraufhin. Von der Polizei ist zu hören, dass viele der Jugendlichen hier in einem Umfeld aufgewachsen seien, das den islamistischen Terrororganisationen Hamas und der Hisbollah nahestehe. Religion - oder vielmehr das, was viele hier darunter verstehen - spiele eine große Rolle, heißt es. Allerdings werde die "Religion" häufig so interpretiert, wie es den Jugendlichen und ihren Eltern gerade ins Konzept passe.
Von der gefährlichen Melange aus pseudo-religiösem Getue und dem ausgeprägten Hang zur Gewalt zeugen einige Fotos der "Graefe-Jungs". Eines der Bilder zeigt die jungen Heißsporne bei einem Ausflug nach Polen: beim gemeinsamen Schießtraining mit halbautomatischen Waffen.
Ein anderes Foto zeigt die jungen Männer zum Fastenmonat Ramadan in traditionellen islamischen Gewändern, wie sie den Zeigefinger, den sogenannten "Tauhid-Finger", emporzeigen. Muslime nutzten das Symbol ursprünglich als Bekenntnis zu ihrem Glauben an Allah.
Seit dem Aufstieg des sogenannten "Islamischen Staat" gilt es als Erkennungszeichen islamistischer Terroristen. Ein mit der Materie betrauter Beamter der Berliner Polizei sagte WELT, die "Causa Graefekiez" sei bereits Thema im für politisch motivierte Delikte zuständigen Staatsschutz gewesen - in der Abteilung für Islamismus und islamistischen Terrorismus.
Quelle: WELT
Kann der Staat den Kampf um die Werner-Düttmann-Siedlung noch gewinnen? Die Polizei hat ihre Präsenz vor Ort inzwischen massiv verstärkt. Die Sozialarbeiter werden den Kampf um "ihre Jugendlichen" ohnehin nicht aufgeben. Doch die Vorzeichen stehen schlecht. Das zeigte die vergangene Silvesternacht.
Die Beamten waren zwar wieder mal nur wegen einer Reihe von Sachbeschädigungen alarmiert worden und der Einsatz schien zunächst Routine zu sein. Doch die Fluchtroute der 30 bis 60 Randalierer führte die Beamten nicht nur durch die verschlungenen Wege und die noch verschlungenere Kelleranlage der Siedlung. Der Weg führte auch zu einem Fund, der den Beamten den Atem stocken ließ. Denn in einem der Kellerräume fanden sie 18 selbst gebaute Molotowcocktails, ein Fünf-Liter-Kanister mit einer brennbaren Flüssigkeit sowie 30 Spraydosen, um die jeweils ein Böller gebunden war.
Die Polizei beschlagnahmte den Fund. Wer die explosiven Stoffe in den Keller gebracht hatte und wofür sie hätten eingesetzt werden sollen, wissen die Beamten bis heute nicht.