Stand: 27.06.2022 | Lesedauer: 6 Minuten
Von Stefan Laurin
Der Mann steht vor einem Café an der Oberdorfstraße und raucht eine Zigarette. "Ich hab alles gesehen, aber ich sag nix." Dann redet er doch: Ein "paar Hundert Araber" hätten sich am Samstag auf der Altendorfer Straße geprügelt. Mit Möbeln, Messern und Stöcken seien sie aufeinander losgegangen. Einem hätten sie in den Hals gestochen. Die Polizei habe dann bis zum frühen Morgen die Straßen im Viertel abgesperrt.
Seinen Namen will er nicht nennen - wie niemand, den man im Essener Stadtteil Altendorf anspricht. "Ich bin hier geboren, unten an der Hamborner Straße. Damals war Altendorf ein ganz normaler Stadtteil. Wir Türken und die Deutschen lebten in Ruhe zusammen, es gab noch deutsche Geschäfte hier." Familien hätten hier spazieren gehen können. Es sei friedlich gewesen. Das sei vorbei. Heute machten sich die Araber hier breit.
Quelle: Justin Brosch
Quelle: Stefan Laurin
Er selbst ist Türke. "Als ich nach elf Jahren Schule und drei Jahren Lehre die deutsche Staatsbürgerschaft haben wollte, sagten sie mir im Rathaus, ich muss ein paar Jahre warten. Da habe ich gesagt: Ihr könnt mich am Arsch lecken." Ob die Schlägerei ein Nachspiel haben wird, die verfeindeten Gruppen bald wieder aufeinander losgehen? "Es wird weitergehen und schlimmer werden." Mit seiner rechten Hand formt er eine Pistole, sein Zeigefinger drückt ihren unsichtbaren Abzug. Mit Blick auf den Schwerverletzten schätzt er: "Wenn der Junge stirbt, wird hier geschossen."
Alles begann ganz harmlos, sagt einer, der die Szene in Altendorf kennt und selbst libanesische Wurzeln hat: "In den sozialen Medien hat ein Mitglied des H-Clans jemanden beleidigt, der dem Al-Zein-Clan nahesteht. Man wollte sich zur Aussprache treffen, und dann ist alles eskaliert." Aber es sei keine reine Clan-Geschichte gewesen; es gebe auch Kontakte zu den Hells Angels.
Großfamilie in Berlin
Neuköllner Clankriminalität
Zwei tote Brüder, ein Milieu
Neu ist diese Konfliktmischung nicht: Erst vor wenigen Wochen lieferten sich zwei Gruppen, deren Mitglieder von der Polizei sowohl der Clan- als auch der Rockerszene zugeordnet werden, im Duisburger Stadtteil Hamborn eine Schießerei auf dem Marktplatz des Viertels. Es gebe jetzt zwei Möglichkeiten, wie es weitergeht, so der Insider: "Entweder wird ein Friedensrichter eingeschaltet, oder wir erleben bald die nächste Auseinandersetzung, die noch blutiger werden könnte."
Quelle: Stefan Laurin
Friedensrichter sind Teil einer migrantischen Paralleljustiz. Sie versuchen, Konflikte zwischen Familien zu schlichten. Eine Form der Friedensstiftung ist das Blutgeld: "Ein Messerstich kann 10.000 Euro kosten. Aber beide Seiten müssen sich darauf einlassen."
In Essen arbeitete die Justiz im Rahmen eines Modells in den Nullerjahren zeitweise mit solchen Friedensrichtern zusammen. Häufig waren es Imame. Darüber, ob es eine solche umstrittene Zusammenarbeit bis heute gibt, konnte die Polizei auf WELT-Anfrage keine Auskunft geben. Die Beamten bestätigen nur, dass es bei der Massenschlägerei einen Schwer- und zwei Leichtverletzte gegeben habe. Die Kriminalpolizei ermittelt nun, ob weitere Auseinandersetzungen drohen, und teilt mit, dass "erste Hinweise" darauf deuten, "dass ein Streit zwischen arabisch/syrisch/türkischen Großfamilien eskaliert ist".
Lesen Sie auch
Clankriminalität
Gleich mehrere brutale Taten zeigen den Kontrollverlust des Rechtsstaats
Das geschieht in Essen, in Stadtteilen wie Altendorf, aber auch in Altenessen häufiger. 2019 eskalierte ein Streit zwischen Schulkindern zu einer Massenschlägerei; ein 18-Jähriger wurde damals fast totgeschlagen. In der Silvesternacht 2020/21 randalierten Clan-Angehörige in Altenessen. Der Vorfall wurde sogar im nordrhein-westfälischen Landtag diskutiert. Die Bekämpfung der Clan-Kriminalität ist ein Markenzeichen von Landesinnenminister Herbert Reul (CDU); der versucht, die Szene mit Razzien und einer Politik der "1000 Nadelstiche" in den Griff zu bekommen. Bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg.
Dabei war Altendorf lange Zeit kein besonders auffälliger Stadtteil. Er grenzte an das alte Werksgelände von Krupp. Die schillernden Stahlfassaden der neuen Hauptzentrale des Konzerns, der 1999 mit seinem ewigen Rivalen Thyssen zu ThyssenKrupp fusionierte, sind nur einen Steinwurf weit entfernt. Arbeiter und Studenten wohnten in den preiswerten Wohnungen.
Quelle: Stefan Laurin
Bis heute gibt es hier ruhige Quartiere, deren Häuser von alten Bäumen umgeben sind. Aber es gibt auch die Altendorfer Straße, wo fast nur noch Angehörige von Clans wohnen, die ihre Wurzeln in den Dörfern im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei haben. Die Staatsangehörigkeit - ob türkisch, syrisch oder deutsch - spielt für die meisten von ihnen keine Rolle. Ihre Loyalität gehört den Großfamilien, zu denen sie sich zählen.
"Vor 30 Jahren bin ich nach Altendorf gezogen", erzählt ein Rentner, der seinen Hund in der Dechenstraße spazieren führt. Es ist ruhig hier an diesem Sonntag. In einem kleinen Schaufenster wirbt der Schachverein "Lustiger Bauer Essen-West" um Mitglieder. "Damals war es ein ganz normales Viertel. Es war nicht teuer, obwohl wir ja ganz nah an der Innenstadt sind."
Er habe sich dann eine Wohnung gekauft. Die wolle er jetzt loswerden, sie stehe schon in einem Immobilienportal zum Verkauf. "Ich will hier nicht mehr leben, Altendorf geht vor die Hunde." Aber einen Interessenten für die Wohnung zu finden sei nicht einfach. "Wer will hier denn noch hinziehen?"
Lesen Sie auch
Clankriminalität
Wenn in der Nachbarschaft die Mafia ihre Häuser baut
Die meisten, die man auf die nächtliche Schlägerei anspricht, haben von ihr am Sonntagmorgen aus den Medien erfahren oder erhielten sorgenvolle Anrufe von Freunden und Verwandten. Nur hundert Meter vom Tatort entfernt habe man nichts mitbekommen.
"Ich wohne am Bockmühlenpark, da ist alles ruhig", erzählt ein anderer Anwohner. "Da leben auch kaum Türken." Krach gebe es immer nur "da unten", sagt er und zeigt Richtung Altendorfer Straße. Da wohnten "die Türken", sagt er. "Ich habe nichts gegen Ausländer, im Gegenteil, aber seitdem die Türken hier leben, geht es bergab." Dann sagt er auf Nachfrage, es könnten auch Araber sein - das wisse er nicht. "Aber es ist auch egal."
Lesen Sie auch
Clans im Sicherheitsgewerbe
Wenn der Wachmann die Gangster reinlässt
Dass es in Altendorf besser wird, es in Zukunft nicht mehr zu Massenschlägereien kommt, glaubt hier niemand.
Quelle: welt.de