Von Julia Encke - Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.
-Aktualisiert am 25.10.2020-11:52
Sönke Neitzel hat den Sprengstoff in seinem neuen, gleich in mehrfacher Hinsicht spektakulären Buch sehr gut versteckt: "Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik" heißt die Militärgeschichte des Potsdamer Historikers, die eigentlich erst Anfang November erscheinen sollte, jetzt aber vom Verlag eine Woche vorgezogen wurde. Eine 800 Seiten umfassende Studie, in der Neitzel die deutsche "Kriegskultur" vom 19. Jahrhundert bis heute untersucht und dabei die Frage stellt, was ein Leutnant des Kaiserreichs, ein Offizier der Wehrmacht und ein Zugführer der Task Force Kunduz des Jahres 2010 gemein haben. Gibt es Kontinuitäten im militärischen Denken und Handeln?, fragt er. Und will die Bundesrepublik heute überhaupt noch Streitkräfte, "demokratische Krieger", die wirklich fähig sind, intensive Gefechte gegen einen hochgerüsteten Gegner zu führen (wofür eine ganz andere Ausrüstung der Bundeswehr nötig wäre)? Oder will sie sich, ohne Kampftruppen, mit aller Konsequenz zur Rolle als Zivilmacht und "Global Social Worker" bekennen?
Er beginnt dabei mit einem Zitat der ehemaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen: "Die Wehrmacht ist in keiner Form traditionsstiftend für die Bundeswehr. Einzige Ausnahme sind einige herausragende Einzeltaten im Widerstand. Das ist eine Selbstverständlichkeit, die von allen getragen werden muss", hatte diese gesagt, als sie sich am 3. Mai 2017 zum Bundeswehrskandal um den unter Terrorverdacht stehenden rechtsradikalen Oberleutnant Franco Albrecht äußerte. Dem Verdacht, dass der Geist der Wehrmacht in Kasernen gedulde würde, sollte so energisch entgegengetreten werden. Wer sich jedoch "jenseits der beschwichtigenden Ministerialrhetorik" ernsthaft mit den Streitkräften beschäftigte, so Neitzel, konnte die Spuren der Vergangenheit kaum übersehen.
Man kann Soldaten, die Bilder von heldenhaften Landsern in ihren Kasernen hängen haben, schnell für Nazis halten. Rechtsradikalismus und Verherrlichung der Wehrmacht gehen fast immer miteinander einher. Zur Erklärung soldatischer Identitäten, heißt es in "Deutsche Krieger", trage dieser Befund jedoch wenig bei. Untersuchungen von Verfassungsschutz und MAD zeigten, dass nur ein einstelliger Prozentsatz der Soldaten einem rechtsradikalen Milieu zuzuordnen sei. "Weit mehr Bundeswehrsoldaten dürften die Wehrmacht aber nach wie vor für einen legitimen Teil ihrer Tradition halten." Das könne man empörend finden, müsse aber auch fragen, warum dies überhaupt so sei. Um die Suche nach der Antwort geht es in "Deutsche Krieger".
Und so rückt Sönke Neitzel die reale oder potentielle Erfahrung vom Kämpfen, Töten und Sterben ins Zentrum seines Buchs, die Streitkräfte fundamental von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterscheidet. In der Bundeswehr ist es nur eine Minderheit, die das Kämpfen in den Mittelpunkt ihrer beruflichen Identität stellt. Viele Soldaten haben als Techniker, Seeleute, Fahrer oder Verwaltungsbeamte eher zivile Aufgaben. Aber natürlich gibt es auch Kampftruppen. Und dass sich Soldaten, die sich in ihrem Selbstverständnis auf den Krieg ausrichten, dafür die passenden Vorbilder suchen, stellt für Neitzel eine "banale Erkenntnis" dar. Die Deutschen aber "haben sich mit ihr nach dem Zweiten Weltkrieg schwergetan. Der Kulturbruch war so tief, die Verbrechen waren so unfassbar, die Niederlage auch moralisch so total, dass sich ihr Verhältnis zum Militär grundlegend änderte. Zu Pazifisten wurden die meisten zwar nicht, aber Gesellschaft und Politik blickten kritischer als zuvor auf ihre Soldaten, suchten sie einzuhegen, ein Stück weit zu zivilisieren und nicht zuletzt von der Vergangenheit abzugrenzen."
Das aber entsprach nicht unbedingt der Realität. Dass das Militär über die politischen Brüche hinweg auch aus diesem Grund eine Welt für sich blieb, zieht sich durch das ganze Buch. Es gehört dabei zu Neitzels besonderen Verdiensten, einen Zugang zu dieser Welt gefunden und das Vertrauen einer Vielzahl von Bundeswehrangehörigen gewonnen zu haben, die ihm Auskunft über ihre Einstellung und ihre Auslandseinsätze gegeben haben. Rund 200 Zeitzeugen habe er sprechen, einige von ihnen zitieren können. Die meisten aber seien noch aktive Soldaten, die lieber anonym blieben, so Neitzel. Es sind Männer und auch Frauen, die sonst gegenüber der Presse nicht reden oder nicht reden dürfen und zu deren Selbstverständnis, gerade bei den Eliteeinheiten, ein Schweigekodex gehört. Und es sind diese Quellen, die ihm einige erstaunliche und auch erschütternde Enthüllungen ermöglichen, die im Buch als solche gar nicht markiert sind, sondern fast beiläufig erwähnt werden - aber eigentlich politische Konsequenzen nach sich ziehen müssten.
Es handelt sich um drei Stellen im Buch. Im Kapitel "Die Bundeswehr in Afghanistan" stellt Neitzel fest, dass
Im selben Kapitel stellt Neitzel fest, "dass es in den Stäben durchaus unterschiedliche Auffassungen von legitimer und illegitimer Gewalt gab, auch Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der Amerikaner im Land". Es seien Fälle bekannt, wo deutsche Stabsoffiziere abgelöst werden mussten, weil sie das Vorgehen der Amerikaner nicht mit ihren Vorstellungen über den Charakter des Einsatzes in Einklang bringen konnten. Doch dürfte das eher die Ausnahme gewesen sein: "Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin. Mancher wunderte sich gewiss, dass darüber nicht gesprochen wurde. Doch keiner wollte sich mit den Amerikanern anlegen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Im Zweifelsfall waren es ihre Hubschrauber, die deutsche Verwundete ausflogen, ihre Flugzeuge, die schwer bedrängten deutschen Soldaten Luftunterstützung gaben. Und wenn US-Spezialkräfte nachts Taliban-Kommandeure töteten, brachte das auch der Bundeswehr mehr Sicherheit. Die Deutschen waren insgesamt loyale Allianzpartner, die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten."
Es gab also diverse Operationen amerikanischer Spezialkräfte, bei denen mehr als hundert Zivilisten umkamen, von denen die Bundeswehr wusste, zu denen sie aber schwieg? Und von denen die Öffentlichkeit nicht erfuhr?
Und im Kapitel "Neue Welt, neue Aufgaben" findet man die Bemerkung:
Man könne bislang nur spekulieren, wie deutsche Offiziere mit dem Wissen über exekutierte Taliban und getötete Zivilisten umgingen. Sie sprächen darüber aus nachvollziehbaren Gründen nicht gerne, schreibt Neitzel und zitiert einen Offizier: "Auch wir erzählen nicht alles aus Afghanistan", sagte Jörg Vollmer, der zweimal im ISAF-Regionalkommando das Sagen hatte. Die Frage lautet aber auch: Wie gehen die Bundeswehr, die Verteidigungsministerin, die Öffentlichkeit mit diesen durch anonyme Quellen enthüllten Anschuldigungen über mögliche Kriegsverbrechen jetzt um? Wie belastbar sind die Quellen? Lassen sich die Aussagen durch andere Quellen belegen? Und was muss daraus folgen?
Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte dieser Zeitung auf Anfrage, dass "das Bundesministerium der Verteidigung zu geschichts- und gesellschaftspolitischen Fachdebatten selbst keine Stellung" beziehe. Wissenschaftliche Arbeiten würden "durch das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften als zuständige Ressortforschungseinrichtung ausgewertet". Im Namen der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) antwortete ihr Referent: "Frau Högl wird sich dazu nicht äußern." Sahra Wagenknecht (Die Linke) dagegen schrieb in einer Email: "Sollten Bundeswehrsoldaten von den Kriegsverbrechen der US-Soldaten Kenntnis gehabt haben, muss untersucht werden an welche Stellen diese Informationen weitergeleitet wurden. Die neuen Enthüllungen sind ein weiterer Beleg dafür, dass die Bundeswehr nie hätte nach Afghanistan geschickt werden dürfen und der Einsatz schnellstmöglich beendet werden muss."
Und Winfried Nachtwei, ehemaliger sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen, antwortete sehr ausführlich:
Quelle: FAZ vom 25.10.2020