11.11.2020, 21:10 Uhr
Pascal Bartosz Alexander Fröhlich Rebecca Barth
Die blutigen Kämpfe zwischen einer deutsch-arabischen Großfamilie und tschetschenischen Männern in Berlin haben nach internen Einschätzung von Polizisten das Potenzial für massive Gewaltexzesse. Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) verweisen in internen Schreiben auf die Ausschreitungen im französischen Dijon - und warnen vor im Milieu verfügbaren Schusswaffen.
In Dijon im Osten Frankreichs hatten sich im Juli dieses Jahres 200 paramilitärisch auftretende Tschetschenen aus ganz Europa und Bewohner der Vorstadt Grésilles, vornehmlich mit nordafrikanischen Wurzeln, heftige Straßenschlachten geliefert. Auslöser war ein Angriff örtlicher Dealer auf einen tschetschenischen Jugendlichen. Die Polizei brauchte Tage, um die Lage zu befrieden.
Berliner Ermittler für "Organisierte Kriminalität" (OK) nennen als warnendes Beispiel auch einen Fall aus Rheinsberg in Brandenburg. Dort war es im Juli zwischen Tschetschenen auf der einen und Polen sowie Deutschen auf der anderen Seite zur Massenschlägerei gekommen. Weitere Eskalationen durch 100 angereiste Tschetschenen und ihnen beistehende türkische Faschisten wurden durch ein Polizei-Großaufgebot verhindert.
Derlei könnte Berlin erspart bleiben. Angehörige des betroffenen Zweiges des Remmo-Clans und tschetschenische Vertreter sollen sich in der Nacht zu Mittwoch auf "Frieden" geeinigt haben. In einem öffentlichen Internet-Post des syrisch-libanesischen Profiboxers Manuel Charr ist ein entsprechendes Foto zu sehen; sieben Männer um einen Tisch.
Boxer Charr trat 2015 auf Einladung des tschetschenischen Herrschers Ramsan Kadyrow bei einem Kampf in Grosny an.
In der Region gab es lange Kriege zwischen prorussischen Kräften und islamischen Separatisten. Kenner bestätigten dem Tagesspiegel, dass Charr - der im Milieu deutsch-arabischer Clans vielfach Respekt genießt - als Vermittler angerufen worden sei. "Es war keine Selbstjustiz", schrieb der Boxer am Mittwoch bei Instagram. Alles sei angeblich in "Absprache mit der Polizei" erfolgt.
LKA-Ermittler sehen darin ein anderes Signal: Der Staat wird trotz schwerer Straftaten auf Abstand gehalten und - angesichts des Einflusses beider Gruppen - eine mächtige Paralleljustiz etabliert.
Die Ermittler warnen intern vor europaweiter Mobilisierung in der tschetschenischen Community, "um die Berliner Tschetschenen zu unterstützen". Entsprechende Aussagen an den Tatorten gäben Anlass zur Befürchtung, dass die Attacken fortgesetzt werden könnten.
Den Behörden bekannte tschetschenische Straftäter haben häufig in den postsowjetischen Zerfallskriegen oder im Nahen Osten gekämpft. Im Lagebild der Berliner Polizei wird vor "extremer Gewaltanwendung" und Überschneidungen zu islamistischen Kreisen gewarnt. Polizisten wurden angewiesen, bei Kontrollen in der Szene auf die "Eigensicherung" zu achten. Ein Sprecher sagte, es gebe eine "Stärkung der Präsenz im öffentlichen Raum und an bekannten Szenetreffs" - offen und verdeckt.
Wie berichtet wurden bei Überfällen in den Stadtteilen Neukölln und Gesundbrunnen am Wochenende elf Männer verletzt. Sechs russische Staatsbürger wurden vorübergehend festgenommen. Internen LKA-Angaben zufolge sollen die Angreifer jeweils Schusswaffen bei sich getragen haben. Ermittler vermuten als Anlass der Kämpfe "Ehrverletzungen", wobei Streit um Drogengeschäfte nicht ausgeschlossen werde.
Verletzte Tschetschenen wurden in vier Krankenhäusern versorgt. An den Kliniken, hieß es polizeiintern, könnten deshalb Kontrahenten auftauchen. In der Nacht zu Mittwoch beobachteten Zivilfahnder offenbar aus diesem Grund mindestens ein Berliner Krankenhaus. Das erfuhr der Tagesspiegel aus Klinikkreisen. Die Namen der Behandelten wurden vorläufig anonymisiert.
Quelle: tagesspiegel vom 11.11.2020
11.11.2020, 13:55 Uhr
Alexander Fröhlich Pascal Bartosz
Angehörige einer bekannten deutsch-arabischen Großfamilie und tschetschenische Männer sollen sich nach den blutigen Kämpfen in Berlin auf einen "Frieden" geeinigt haben. In einem öffentlichen Post des syrisch-libanesischen Profiboxers Manuel Charr ist ein entsprechendes Foto zu sehen, auf dem sieben Männer an einem Tisch sitzen.
Charr schreibt auf der Foto-Plattform Instagram dazu, dass er als "Friedensstifter" aufgetreten sei. Ermittler bestätigten dem Tagesspiegel, dass Charr - der im Milieu deutsch-arabischer Clans viel Respekt genießt - als Vermittler angerufen worden sei.
Der Boxer rief im Namen Allahs zur Versöhnung und Geduld auf trotz Uneinigkeit in religiösen Fragen. Um sie herum lauerten Feinde. "Frieden in berlin Al Hamdullah es war keine Selbstjustiz alles in Absprache mit der Polizei und meinem Freund wenn 1% Frieden erzeugen kann, dann bin ich als Friedensbotschafter unterwegs", schrieb Charr in seinem Post.
Am Wochenende hatte es mehrere gegenseitige Angriffe von Clan-Mitgliedern und Tschetschenen gegeben. Elf Menschen wurden durch Messerstiche, Tritte und Schläge verletzt.
Die Polizei registrierte auch, dass die Angreifer jeweils auch Schusswaffen bei sich getragen haben. Die Ermittler beim Landeskriminalamt (LKA) vermuten als Ursache für die Eskalation "massive Ehrverletzungen". Auch Revierkämpfe im Drogenhandel werden nicht ausgeschlossen.
Wegen der verletzten Tschetschenen standen mehrere Krankenhäuser im Fokus der Polizei. Bei den in einer internen Liste genannten Kliniken könnten Clan-Mitglieder auftauchen, heißt es.
In der Nacht zu Mittwoch beobachteten Zivilfahnder mindestens ein Berliner Krankenhaus. Das erfuhr der Tagesspiegel aus Klinikkreisen. Die Namen der dort behandelten Betroffenen der Kämpfe vom Wochenende wurden in den Akten vorläufig anonymisiert.
Zugleich hatte das für organisierte Kriminalität zuständige LKA-Kommissariat 412 vor einer massiven Mobilisierung in der tschetschenischen Community in ganz Europa gewarnt. Es sei möglich, dass Tschetschenen den Versuch unternehmen, Landsleute aufzufordern, "nach Berlin zu kommen, um die Berliner Tschetschenen zu unterstützen".
Entsprechende Aussagen ließen vermuten, dass die brutalen Attacken fortgesetzt würden. Der Clan und die Tschetschenen seien in der Lage, ein großes Personenpotenzial aus anderen Bundesländern zu aktivieren, die Tschetschenen sogar europaweit. Es sei auch davon auszugehen, dass beide Gruppen über scharfe Waffen verfügten. Alle Polizeikräfte wurden angewiesen, auf Mitglieder beider Gruppen verstärkte zu achten und diese vermehrt zu kontrollieren.
Offenbar im Wissen um die Folgen einer weiteren Eskalation zwischen Arabern und Tschetschenen haben sich beide Seite auf Char als unabhängigen Vermittler geeinigt. Die Ermittler sehen darin jedoch ein anderes Signal: Der Staat wird trotz schwerer Straftaten auf Abstand gehalten und - angesichts des Einflusses beider Gruppen - eine mächtige Paralleljustiz etabliert.
Wie berichtet, waren Mitglieder eines Berliner Zweiges der Großfamilie Remmo zunächst am Samstagabend von jungen Tschetschenen attackiert worden. Vermummt hatten junge Männer am Samstagabend einen Spätkauf-Laden in der Wildenbruchstraße in Neukölln gestürmt, der dem Remmo-Clan zugerechnet wird.
30 Schläger sollen mit Messern, Stühlen, Wasserpfeifen aufeinander losgegangen sein. Drei Männer - 16, 39 und 46 Jahre alt - wurden durch Schläge und Stiche teilweise schwer verletzt.
Die Ermittler gehen davon aus, dass die Attacke auf den Späti zu einem Racheakt am Bahnhof Gesundbrunnen führte. Zeugen berichteten der Polizei, dass sich fünf Personen auf der Straße an einem Porsche unterhielten, als sich drei Wagen näherten und zehn Personen ausstiegen. Die hinzugekommenen Männer hätten mit Messern und Schlagstöcken angegriffen.
Am Sonntagabend folgte der nächste Kampf, wieder in Gesundbrunnen. Circa 20 arabischsprechende Männer griffen gegen 17.30 Uhr zwei Männer an. Ein Video des Vorfalls zeigt, wie drei Männer auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof auf einen 31 Jahre alten Mann eintraten - der Tschetschene war zwischen zwei Fahrzeugen eingekeilt. Aufgenommen wurde das Video aus einem langsam fahrenden Auto.
Wenige Meter weiter, so ist es in dem Clip zu sehen, schlugen Männer von hinten auf einen am Boden liegenden Mann ein. Er versuchte auf allen Vieren zu fliehen, brach aber zusammen. Dazu stach ihm ein Mann mit einem Messer in den Rücken. Das Opfer wurde später als 43 Jahre alter Tschetschene identifiziert. Ein weiteres Video zeigt, wie Zeugen dem blutenden Mann halfen.
Ebenfalls am Sonntagabend gab es eine vierte Attacke, diesmal am Brunnenplatz vor dem Amtsgericht Wedding. Das LKA prüft, ob dieser Fall ebenfalls den Auseinandersetzungen zwischen Remmo-Clan und Tschetschenen zuzurechnen ist.
Ein 34-Jähriger, laut Polizei russischer Staatsbürger, soll gegen 20.45 Uhr nach einem Streit mit zwei oder drei Männern mit einem Messer attackiert worden sein. Er wurde durch einen Stich am Oberkörper verletzt. Der Mann ließ sich mit einem Taxi in ein Krankenhaus bringen.
Quelle: tagesspiegel vom 11.11.2020