Eine Analyse von Tilman Steffen,Leipzig
Die Lageanalyse fällt düster aus: Das Image von Europa ist schlecht die Liste der Problemländer wird immer länger, heißt es in der Präambel des Europa-Wahlprogramms der Grünen. In Österreich schränkt ein rechtsnationaler Innenminister die Pressefreiheit ein, die Regierungen in Polen, Rumänien und Ungarn schleifen europäische Grundwerte, die USA werden von einem Populisten regiert, der per Twitter gegen andere Staatschefs poltert und Europa zum wirtschaftlichen Feind erklärt. "Die Stimmung ist im Moment nicht die allerbeste", sagt Grünenchefin Annalena Baerbock in Leipzig, wo die Grünen auf einem Parteitag die Europawahl vorbereiten.
Die Grünendagegen sind im Höhenflug: Die Wahlergebnisse sind teils vervielfacht, die Umfragen bestens. 20 Prozent zur Europawahl scheinen möglich.
Der Parteitag in Leipzig feiert das mit Musik und Applaus. Die Grünen wirken mehr denn je wie eine große Familie, man duzt sich, lacht viel, die Stimmung ist prächtig, die Flügelkämpfe sind erlahmt. "Der beste Flügel ist heute bei uns auf der Bühne", kalauert der politische Geschäftsführer Michael Kellner. Zur Einstimmung spielte Pianist Igor Levit dann Beethovens Ode an die Freude, auch bekannt als Europahymne.
Bach, Beethoven die Grünen geben sich bürgerlich, freundlich, geschlossen. Das liegt auch am Führungsduo: Die Führung ist mit Baerbock und ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck in der Hand von Grünen-Realpolitikern. Die Parteilinken sind nur an der Spitze der Kandidatenlisten für die Europawahl sichtbar.
Um den Erfolg zu verstetigen, wollen die Grünen nun jene Fehler vermeiden, die sie in der Vergangenheit Wählerstimmen kosteten. So wie der Ruf nach fünf Mark für einen Liter Benzin oder dem Veggieday in Kantinen und Schulküchen beide Ideen waren historische Desaster für die Partei. Radikale Forderungen aufzustellen, kann einer Oppositionspartei zu Aufmerksamkeit verhelfen. Die Grünen aber sind durchaus sichtbar und regieren in mehreren Bundesländern mit. Um den Höhenflug nicht zu gefährden, hat die Partei ihre radikalen Punkte nun tief im Europa-Wahlprogramm versteckt. Aber es gibt sie:
Kurzzeitig litt die Partei in Leipzig auch an sich selbst: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident in Banden-Württemberg, grätschte von Stuttgart aus in den Parteitag hinein mit dem migrationspolitischen Vorschlag, "junge Männerhorden" unter den Flüchtlingen aus Sicherheitsgründen von Großstädten fernzuhalten. Das ähnelt den Forderungen des grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer nach besondere Härte gegen straffälliger Migranten, mit denen er bei Parteifreunden in steter Regelmäßigkeit Kopfschütteln auslöst