Baerbock in "Wahlarena" Mehr Geld für alles - nur der Mann aus dem Kohlerevier bekommt eine Abfuhr

Von Claus Christian Malzahn
Reporter

Stand: 07.09.2021 | Lesedauer: 5 Minuten

Der Staat soll es regeln. Die Versprechen von Annalena Baerbock in der ARD-"Wahlarena" sind teuer. Ein Wirtschaftsprüfer rechnet live mit. Nur ein Lausitzer, der sich um Jobs nach einem früheren Kohleausstieg sorgt, bekam von der Grünen eine Abfuhr. Mehr Geld für alles: Annalena Baerbock spricht in der ARD-"Wahlarena" zur Bundestagswahl
Quelle: dpa/Axel Heimken

Die allerletzte Frage, die Annalena Baerbock in der ARD-"Wahlarena" am Montagabend von einem Wirtschaftsprüfer aus Nordrhein-Westfalen gestellt wird, bringt den grünen Ideenkomplex zwar nicht zum Einsturz. Aber das Programmgebäude wackelt, im politischen Fundament werden plötzlich Risse erkennbar. Der Mann sagt: "Ich höre hier immer, was Sie alles ausgeben wollen. Aber wie wollen Sie das bezahlen? Das geht doch gar nicht!" Der Wirtschaftsprüfer klingt etwas fassungslos, er hat im Kopf überschlagen, was Baerbocks Vorschläge unterm Strich kosten würden.

In den vorherigen 70 Minuten hatte sich die Kanzlerkandidatin der Grünen in Lübeck live von Bürgerinnern und Bürgern befragen lassen und auf fast jede Ansprache auch eine Antwort parat. Sie wirkt sicher, kommt nicht ins Schleudern, das Format ist ihr vertraut. Auch im laufenden Wahlkampf setzen die Grünen auf Marktplätzen auf solche "Townhall"-Gespräche.

Die Fragen sind zufällig, auch in Lübeck beteuern die Moderatoren, dass Baerbock sie vorher nicht gekannt hat. Die Kandidatin ist den Gästen zugewandt, sie fragt nach, bemüht sich meist um Augenhöhe. Das hat man alles schon weit abgeklärter, oberflächlicher erlebt.

Staatsausgaben als Lösung für alles

Doch der baerbocksche Lösungsansatz für die von den Teilnehmern aufgeworfenen Probleme folgt einem bewährten Muster. Sie schüttet die aufgeworfenen Fragen fast immer mit Staatsausgaben zu.

Eine Altenpflegerin beklagt, dass sich trotz des Balkonapplauses während der Corona-Krise nichts, aber auch gar nichts an ihrem Arbeitsalltag verändert habe. Der Personalschlüssel in der Pflege ist zu niedrig, die Arbeitszeiten sind zu lang, die Gehälter nach wie vor mickrig. Vom Beifall könne sie ihre Miete nicht zahlen, sagt die junge Frau.

Baerbock bedankt sich trotzdem noch mal für den Einsatz und verspricht dann eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden, spricht sich für Lohnerhöhungen und mehr Personal aus. Die Altenpflegerin blickt etwas skeptisch und fragt: "35 Stunden? Wo sollen denn die zusätzlichen Leute herkommen?" Baerbock hat das Ausland im Blick, die Genehmigungen für nicht deutsche Fachkräfte müssten schneller und leichter erteilt werden. Die Frage, wie das alles bewerkstelligt werden soll, ohne dass die Kosten in die Höhe schießen, ist damit nicht geklärt. In die Deckungslücken müsste der Staat Geld hineinschießen. Nicht das letzte Mal an diesem kurzen Abend.

"In jedem Ort ein Bus" - Der Staat soll es regeln

Eine andere Frau, die auf dem Land lebt, fragt sich, wie sie "Familie, Beruf und Klimaschutz" unter einen Hut bekommen soll. "Ich möchte das Klima schützen, frage mich aber, wie?" Der Bahnhof ist drei Kilometer weit weg, die Anbindung an die nächste Stadt schlecht. Baerbock, die selbst in einem Dorf groß geworden ist, weiß, dass Autos in der Provinz Freiheit bedeuten.

Der Frau verspricht sie, dass künftig "in jedem Ort ein Bus" fahren soll. Wo all die Busfahrer herkommen und vor allem wie der ambitionierte Fahrplan finanziert werden soll, wird nicht weiter berechnet und geklärt.

Man ahnt: Der Staat soll es regeln. Das gilt natürlich auch für Kindergartenvorsorge, bessere Ausstattung in Schulen und schnelles Internet in der Provinz. Für mehr Polizisten auf der Straße, auch hier muss der Staat "mehr Geld in die Hand nehmen", es gehe nicht an, dass Ordnungshüter Überstunden vor sich herschieben.

Mehr Geld vom Staat soll auch bei der therapeutischen Vorsorge eingesetzt werden. Dass die Pandemie gerade bei Kindern auf die Seele drückt, weiß Baerbock als Mutter ohnehin. Also Psychologen und Sozialarbeiter an die Lehranstalten, wer wäre da dagegen.

Auch die "Heilpraktikerin für Psychotherapie" will Geld

Eine "Heilpraktikerin für Psychotherapie" beklagt, dass ihre Arbeit von den Kassen nicht vergütet wird. Auch sie wird von Baerbock rhetorisch in den Arm genommen, solche Arbeit sei "wichtig". Dass die Ablehnung der Kassen bei Psycho-Heilpraktikern etwas mit ihren teilweise umstrittenen, weil oft nicht evidenzbasierten Behandlungsmethoden zu tun hat, kommt nicht zur Sprache.

Längst nicht alles, was in der "Wahlarena" als Ungerechtigkeit präsentiert wird, muss es zwangsläufig auch sein, nicht von jedem Einzelfall kann man aufs große Ganze schließen.

Das gilt möglicherweise auch im Fall eines jungen Mannes, der sich seit langer Zeit beim öffentlichen Dienst bewirbt und dort bisher gescheitert ist. "Das kotzt mich an", sagt er. Die Ablehnung führt er auf seinen türkischen Namen zurück.

Vielleicht ist das wirklich ein Fall von krasser Diskriminierung, live vorgetragen im Ersten. Für ein abschließendes Urteil aber hätte man auch gern diejenigen gehört, die die Absagen geschrieben haben. Die sind aber nicht in der "Wahlarena".

Baerbock spricht in ihrer Antwort von "Rassismus", da "muss sich richtig was ändern", bringt ein "Gesellschaftsministerium" ins Gespräch, das Gleichberechtigung garantieren soll. Nach der Sendung will sie die Nummer des Mannes notieren und sich um den Fall kümmern. Man wüsste gern, was am Ende dabei rauskommt.

Ein Künstler ("Theater, Kinderbücher, Lesungen") klagt darüber, dass er seit Juni kein Geld mehr bekommen hat. Die Corona-Krise hat dem Selbstständigen wirtschaftlich die Existenz entzogen. "Wir Künstler bauen auf Sie!", sagt er, ein Hilferuf. Baerbock will sich auch um diesen Einzelfall kümmern. Auch hier wüsste man gern mehr.

Existenzsorgen wegen Kohleausstieg - der Lausitzer bekommt eine Abfuhr

Unterm Strich lässt sich sagen: Die Erwartungen an Baerbock als Repräsentantin der grünen Republik sind ausgesprochen hoch, die Versprechen sind es auch. Eine Abfuhr bekommt an diesem Abend nur ein Lausitzer, der sich Sorgen um die Energieversorgung und das grüne Kohleausstiegsdatum 2030 macht. 70.000 Familien seien im Revier davon betroffen. Der Mann hat echte Existenzsorgen, fürchtet Dunkelflauten, hat Angst davor, dass seine Heimat wegen der grünen Energiepolitik in eine massive wirtschaftliche Krise schlittert.

Baerbock hält ihm entgegen, dass man den Flutopfern im Ahrtal nicht zumuten könne, weiter auf Kohle zu setzen. Eine Krisenregion schlägt rhetorisch die andere. Was man im Ahrtal wohl zu dieser Logik sagt?

Am Ende kommt dann der Wirtschaftsprüfer, der mitgerechnet und Zweifel an der Finanzierbarkeit der grünen Vorschläge hat. Auch das glaubt Baerbock kontern zu können. Mit Vermögensteuer, höherem Spitzensteuersatz - und der Ahndung von Steuerbetrug ("50 Milliarden gehen uns da jährlich verloren").

Bei Baerbock klingt das, nicht nur an diesem Abend, alles ein bisschen zu mühelos und einfach.


Quelle: welt.de