Auf einer winzigen Pazifikinsel nehmen die USA ein altes Flugfeld wieder in Betrieb - und die Inselbewohner fragen sich: Kommt jetzt wieder ein Krieg?

Patrick Zoll, Peleliu (Text und Bilder)
NZZ-Korrespondent für Geopolitik in Ostasien

11.07.2024, 05.30 Uhr

Im Zweiten Weltkrieg geriet die Insel Peleliu in Palau zwischen die Fronten. Nun bereiten sich die Amerikaner dort auf den nächsten Konflikt vor. Ein Augenschein auf einer vergessenen Insel.

Unter einem Zeltdach hören die Bewohner von Peleliu den angereisten palauischen und amerikanischen Beamten zu.

Zum dritten Mal meldet sich der Mann im roten T-Shirt zu Wort. Die versammelte Gemeinde murmelt mit Unmut, denn der Mann ist offensichtlich angetrunken. "Meine dritte Frage ist eigentlich die gleiche wie die erste", sagt er: "Bereiten Sie sich auf einen Krieg vor?" Ein betretenes Kichern geht durch die Menge.

Es ist Montagabend auf Peleliu, einer kleinen Insel, die zum Archipel Palau gehört. Mit dem Sonnenuntergang hat die drückende Hitze einer angenehm warmen Tropennacht Platz gemacht. Vor dem Gebäude der lokalen Verwaltung sind Zeltdächer aufgestellt, darunter Plastikstühle. Schätzungsweise einhundert Bewohnerinnen und Bewohner sind gekommen. Das Interesse ist gross: Insgesamt leben weniger als 500 Personen auf Peleliu.

Vor der versammelten Gemeinde sitzen an einem langen Tisch der lokale Gouverneur, ein Minister der Nationalregierung, die Koordinatorin für nationale Sicherheit Palaus. Und neun Amerikaner. Einige in Zivil, einige in den tarnfarbenen Uniformen der unterschiedlichen Teilstreitkräfte: Navy, Marines, Air Force.

Der Krieg hat ein tiefes Trauma hinterlassen

Die grosse Delegation ist nach Peleliu gereist, weil die Amerikaner ein altes Flugfeld rehabilitieren und wieder in Betrieb nehmen wollen. Dieses wurde ursprünglich von den Japanern gebaut, die Palau von 1914 bis 1945 als Kolonie beherrscht hatten. Im September 1944 griffen die Amerikaner Peleliu an, um das Flugfeld unter Kontrolle zu bringen.

Statt wie angenommen wenige Tage dauerte die Schlacht zweieinhalb Monate. Die Operation war eine der blutigsten im Pazifik: 1600 Amerikaner und mehr als 11.000 Japaner starben. Das sind rund 1000 Tote pro Quadratkilometer Insel.

Die Zivilbevölkerung wurde vom Gemetzel verschont, sie war kurz davor auf die Hauptinsel Babeldaob evakuiert worden. Dennoch sitzt das Trauma heute noch tief.

"Wir hatten dort kaum etwas zu essen. Ständig mussten wir uns vor amerikanischen Flugzeugen verstecken, die uns im Tiefflug angriffen", erzählt die 93-jährige Dirrakidel Martha Giramur. "Wir Kinder weinten und flehten unsere Eltern an, nach Peleliu zurückzukehren."

Die eigene Insel war nicht mehr erkennbar

Dieser Wunsch ging erst nach zwei Jahren in Erfüllung, nachdem Japan kapituliert und die Amerikaner ihre Herrschaft über den westlichen Pazifik gesichert hatten. Die Ankunft sei ein brutaler Schock gewesen, erzählt die heute älteste Einwohnerin von Peleliu: "Wir erkannten unsere Insel nicht wieder. Es stand kein einziger Baum mehr. Alles war weiss."

Die 93-jährige Dirrakidel Martha Giramur hat als Kind die Zerstörung Pelelius erlebt. Sie fürchtet sich vor einem neuen Krieg.

Amerikanische Marineinfanteristen gehen 1944 in Peleliu unter schwerem Feuer der Japaner an Land.
Bettmann / Getty

Artillerie, Brandbomben, Napalm hatten die einst dichte, grüne Vegetation komplett wegrasiert. Alles war mit einer Staubschicht aus Korallengestein bedeckt, das die Bomben und Granaten pulverisiert hatten. Darunter mischten sich die Reste von weissem Phosphor. Die Amerikaner hatten diese Brandwaffe in grossen Mengen eingesetzt, um die Japaner aus ihren Höhlen und Bunkern zu treiben. Viele verbrannten bei lebendigem Leib.

Die ersten Amerikaner, die sie sah, machten Giramur Angst: "Sie waren so gross, so weiss. Und wir verstanden kein Wort." Die Angst legte sich schnell: Die Amerikaner brachten die Zivilbevölkerung in grossen Blechhütten unter - aufgeteilt nach den fünf Dörfern, die Peleliu einst hatte. Davon war nichts übrig geblieben.

Das Essen kam aus der Feldküche der Navy. Auf dem Schlachtfeld wuchs nichts mehr. Und das Fischen war gefährlich. An den Stränden und auf dem Riff lagen Hunderte von zerstörten Landungsbooten und amphibischen Panzern, tonnenweise nicht explodierte Geschosse.

Doch die Armee bot auch Arbeitsplätze. Giramur arbeitete als Hausangestellte für die Familie eines amerikanischen Militärs, dann als Wäscherin für die Navy. Später zog sie ins amerikanische Aussenterritorium Guam und fand dort Arbeit als Putzhilfe in einem Hotel. Dort wuchsen ihre Kinder auf. Erst nach der Pensionierung kehrte sie nach Peleliu zurück.

Die USA bereiten sich auf einen Krieg mit China vor

Seit einem guten Jahr arbeiten auf Peleliu wieder etwa siebzig amerikanische Marineinfanteristen. Sie rodeten das überwucherte Flugfeld, planierten es, besserten auch die wenigen Strassen der Insel aus. "Ich habe Angst vor diesen Soldaten", sagt Giramur, "vielleicht bereiten sie wieder einen Krieg vor."

Die Frage nach dem Krieg, die der Betrunkene an der Informationsveranstaltung wiederholt stellt, brennt vielen auf Peleliu auf der Zunge. Gelangt Peleliu erneut zwischen die Fronten, wie im Zweiten Weltkrieg? Könnte die Insel erneut Schauplatz eines Krieges werden, mit dem die lokale Bevölkerung eigentlich nichts zu tun hat?

Diese Fragen den versammelten Autoritäten ins Gesicht zu sagen, traut sich nüchtern niemand.

Die ehrliche Antwort auf die Frage, ob sich Amerika auf einen Krieg vorbereitet, lautet: Ja. Der Gegner heisst heute China, nicht mehr Japan. Doch die geografische Lage, welche Palau im Zweiten Weltkrieg wichtig machte, hat sich nicht verändert.

Das grosse Flugfeld aus dem Zweiten Weltkrieg ist gerodet und planiert. Bald soll es geteert werden. Dank seiner Länge von zwei Kilometern können dann auch schwere militärische Transportmaschinen landen.

Die amerikanischen Marines erneuern auch die Strassen auf Peleliu. Das ist zum Vorteil der lokalen Bevölkerung.

Das Land aus rund 350 Inseln und Inselchen liegt weniger als 1000 Kilometer östlich der Philippinen. Die ehemalige amerikanische Kolonie wird für die Militärstrategen im Pentagon immer wichtiger, seit Manila Washington den Zugang zu neun Stützpunkten gewährt hat.

Peleliu ist nicht das einzige alte Flugfeld, das die US Air Force wieder in Betrieb nimmt. Auch in Tinian, in den nördlichen Marianen, sind Bauarbeiten im Gang. Ebenso in Yap in den Föderierten Staaten von Mikronesien. Zusammen bilden diese Inseln die sogenannte zweite Inselkette, eine von den Amerikanern kontrollierte strategische Linie im westlichen Pazifik.

Das Konzept dahinter heisst Agile Combat Employment. Im Krisenfall will die Air Force ihre Flugzeuge verteilen. Weg von der Basis Andersen auf Guam, der wichtigsten der Air Force im Westpazifik. Sie ist ein Klumpenrisiko, denn sie liegt in Reichweite chinesischer Raketen. Die Amerikaner fürchten einen verheerenden Überraschungsangriff, wie ihn die Japaner vor über achtzig Jahren auf den Hafen Pearl Harbor in Hawaii verübt haben. Das soll sich keinesfalls wiederholen.

Doch so erklären es die neun Amerikaner auf Peleliu nicht den Inselbewohnern. Sie sprechen viel lieber davon, dass auf dem Flugfeld Touristen landen könnten. Und dass dieses für medizinische Evakuierungen genutzt werden könnte.

Das stimmt vielleicht. Doch dafür braucht es keine Landebahn von mehr als zwei Kilometern Länge. Auf dieser Pistenlänge können schwere militärische Transportmaschinen landen. Zusätzlich umfasst der Plan Landreserven, welche eine Verlängerung der Piste auf drei Kilometer erlauben würden.

Im Süden der Insel baut das Militär auch den kleinen Hafen aus. Dieser grenzt praktisch ans Flugfeld, ist also ideal, um Maschinen und Material auszuladen. Der Hafen werde auch den Inselbewohnern offenstehen, heisst es.

Allerdings ist im Alltag vor allem das North Dock wichtig, die Anlegestelle im Norden von Peleliu. Von dort fahren die Fähren und Schnellboote in den Hauptort Koror. Doch bei Ebbe müssen die Boote langsam fahren, die Fähre gar warten - der Kanal durchs Korallenriff ist so seicht, weil er schon lange nicht mehr ausgebaggert wurde.

Die Bauern wollen ihre Taro-Felder nicht verlieren

Es sind praktische Fragen, welche die Inselbewohner an der Informationsveranstaltung stellen. Durch die Verlängerung der Piste wird eine Strasse abgeschnitten - wird diese verlegt? Was geschieht mit den Taro-Feldern, die von den Bauarbeiten tangiert werden könnten?

Das Wurzelgemüse Taro ist ein Grundnahrungsmittel in Palau. Die mannhohen Pflanzen brauchen mehrere Jahre, bis sie geerntet werden können. Die Bauern wollen ihre Kulturen nicht verlieren. Nicht wieder bei null anfangen wie nach dem Krieg.

Das Wurzelgemüse Taro wird in kleinen Senken angebaut, wo sich Wasser ansammelt. Eine alte Frau kontrolliert ihr Feld.

Vom North Dock in Peleliu fahren die Boote und Fähren in den Hauptort Koror. Doch bei Ebbe können die Schiffe zum Teil nicht anlegen, weil der Zufahrtskanal versandet ist.

Mehr als zwei Stunden dauert die Veranstaltung. Wasserflaschen, Sandwiches, Küchlein werden verteilt. Etwas abseits steht ein Mann, der das Geschehen beobachtet. Er lehnt auf seinem Fahrrad und sagt: "Das ist alles nur eine Show. Die machen das hier, weil sie in ihrem Prozess einen Punkt abhaken müssen: Öffentliche Informationsveranstaltung? Erledigt!", sagt er. "Was wir denken, ist ihnen egal. Wir haben eh nichts zu sagen." Auf die Frage, ob wir ihn später für ein vertieftes Gespräch treffen könnten, flüstert er: "Sicher nicht. Ich arbeite für diese Typen."

Das amerikanische Militär ist in Peleliu ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Fast alle Zimmer in den Gaststätten auf der kleinen Insel sind von den Marineinfanteristen belegt - auf Monate hinaus. Auch die kleinen Läden und das einzige grössere Restaurant im Ort verdienen gut an den Soldaten.

Das Geld ist sehr willkommen. Denn Palau war wegen Covid gut zwei Jahre komplett von der Aussenwelt abgeschnitten. Erst langsam kommen die Touristen zurück, zum Tauchen oder um das Schlachtfeld auf Peleliu zu besichtigen.

Daneben zeigt sich aber auch, dass 111 Jahre Kolonialherrschaft unter den Spaniern, Deutschen, Japanern und schliesslich den Amerikanern ihre Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen haben.

Eine ältere Dame, die vor der Veranstaltung noch gesagt hatte, dass sie die Militärs zur Rede stellen werde und wissen wolle, was diese hier trieben, stellt dann doch keine Frage. Darauf angesprochen, meint sie: "Die sind extra hierhergekommen, um uns alles zu erklären. Da habe ich halt zugehört." Autoritäten machen auf Peleliu noch Eindruck.

Kritische Fragen unerwünscht

Der Mann mit dem Fahrrad scheint recht zu haben; die Delegation suchte keinen echten Dialog. Auf die überraschende Anwesenheit des ausländischen Journalisten reagiert eine mitgereiste PR-Verantwortliche wenig erfreut. Als die NZZ dem Oberstleutnant der Air Force im Anschluss an die Veranstaltung ein paar Fragen stellt, filmt sie den Journalisten. Dann müssen alle ganz schnell weg - weitere Fragen solle man ans Regionalkommando in Guam schicken.

Heute ein idyllischer Strand, vor achtzig Jahren ein Schlachtfeld: Hier gingen im September 1944 die amerikanischen Marines an Land und kämpften gegen erbitterten Widerstand der Japaner.

Die Landung der amerikanischen Truppen auf Peleliu im Oktober 1944 von See her gesehen: Die Insel ist im Rauch der Bombardierungen kaum auszumachen.
Imago

Zwei Tage später bei einer weiteren Veranstaltung im Hauptort Koror heisst es von Anfang an kategorisch: "Keine Fragen von Journalisten." Auch die Koordinatorin für nationale Sicherheit Palaus, die sich zuvor gesprächsbereit gezeigt hatte, blockt ab: "Ich spreche nicht mit Ihnen. Sie sind negativ eingestellt."

In amerikanischen Analysen zur chinesischen Aufrüstung wird immer wieder zur Dringlichkeit gemahnt. Bereits jetzt hat die chinesische Marine mehr Schiffe als die amerikanische. Bei Flugzeugträgern und U-Booten macht sie stetig Fortschritte, der technologische Vorsprung der Amerikaner schwindet. Das Raketenarsenal, das Basen und Flugzeugträger bedroht, wächst ständig.

Eile ist angesagt. Da scheinen sich die amerikanischen Strategen nicht lange mit ein paar Dörflern auf einer abgelegenen Insel aufhalten zu wollen.

Die USA können auf Guam Basen eröffnen

Erst recht nicht, wenn die Supermacht am Ende sowieso bekommt, was sie will. Als Washington 1994 Palau in die Unabhängigkeit entliess, band es den kleinen Archipel mit einem Vertrag an sich: Die USA übernehmen die Verteidigung der Inseln und können dazu Truppen stationieren. Palau erhält im Gegenzug wirtschaftliche Unterstützung, seine Bürger können in den USA studieren und arbeiten.

Praktisch gleich lautende Abkommen, die Compact of Free Association heissen, haben die USA mit den Föderierten Staaten von Mikronesien und den Marshallinseln geschlossen. So sichert sich Washington die Vorherrschaft über den Westpazifik.

Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg sind noch immer explosiv

Im Juni 2024 landet erstmals eine amerikanische Militärmaschine zu Testzwecken auf dem Flugfeld in Peleliu. Noch ist die Piste nicht geteert.
Hannah Hollerud / Marine Corps

Also gehen die Bauarbeiten auf Peleliu weiter. Einen Baustopp gibt es, als ein Bagger plötzlich drei grosse Minen vor sich herschiebt. Auch achtzig Jahre nachdem die Japaner diese in Erwartung des amerikanischen Angriffs verlegt hatten, könnten die medizinballgrossen, schwarzgrauen Halbkugeln explodieren. Die Bagger ruhen, bis das lokale Minenräumteam die Gefahr beseitigt hat.

Trotz solchen Überraschungen ist das Flugfeld schon so weit planiert, dass ein erster Testflug mit einer militärischen Transportmaschine stattfinden konnte. Bald soll es geteert werden, damit es auch schweren tropischen Gewittern standhält. Abstellplätze für Flugzeuge kommen dazu.

Man werde aber Peleliu nur für Übungen oder den Notfall nutzen, schreibt die US Air Force per E-Mail. Man werde hier keine Flugzeuge stationieren. Auch seien gegenwärtig weder befestigte Hangars noch Fliegerabwehrbatterien oder feste Installationen für die Betankung geplant.

Für die Bewohnerinnen und Bewohner von Peleliu machen all diese militärischen Details keinen Unterschied. Die 93-jährige Martha Giramur kennt diese ebenso wenig wie den genauen Ablauf des Krieges, unter dem sie vor achtzig Jahren zu leiden hatte.

Doch für sie ist klar: Die Anwesenheit der Soldaten ist ein schlechtes Zeichen. "Was machen wir bloss, wenn es wieder zum Krieg kommt?", fragt sie ihre Nachbarin, die bei ihr zu Besuch ist. Die beiden Frauen schauen sich ratlos an. Schweigen. Dann sagt Giramur entschlossen: "Was auch immer passiert, ich verlasse Peleliu nie mehr."


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