Eine Kolumne von Jan Fleischhauer
Halten wir uns ausnahmsweise an die Zahlen. Rund 370.000 Verfahren sind derzeit bei Gerichten anhängig, weil Asylbewerber die Entscheidung des Bundesamtes für Migration nicht akzeptieren wollen und einen Anwalt beauftragt haben, sich ihrer Sache anzunehmen.
Schon im Sommer vergangenen Jahres warnte der Vorsitzende des Bundes deutscher Verwaltungsrichter, das System stehe vor dem Kollaps: "Irgendwann bricht alles zusammen", sagte der Richter, der als besonnener Mann gilt. Seitdem sind noch einmal 120.000 Fälle dazugekommen. Die Gerichte haben neues Personal eingestellt, um der Klageflut Herr zu werden. Aber weil ein Verfahren fünf bis sechs Monate dauert, manchmal auch länger, bleibt immer mehr Arbeit zurück als erledigt werden kann.
Man sollte diese Zahlen im Kopf haben, wenn man über die Asylindustrie redet. Am Wochenende hat Alexander Dobrindt in der "Bild am Sonntag" seinen Unmut darüber geäußert, dass eine "Anti-Abschiebe-Industrie" die Bemühungen des Rechtsstaats sabotiere, auch solche Leute abzuschieben, die durch ihr Verhalten allen Grund geboten hätten, sie so schnell wie möglich außer Landes zu schaffen. Vor allem beim sozialdemokratischen Koalitionspartner hat der Landesgruppenchef der CSU damit für Aufregung gesorgt.
Warum die Empörung, habe ich mich gefragt? Weil Dobrindt einen Missstand benennt, von dem alle, die sich auskennen, wissen, dass er existiert? Die SPD hat ein seltsames Talent entwickelt, auf dem falschen Fuß Hurra zu schreien, muss man sagen. Die Mehrheit der SPD-Anhänger steht in der Sache mit Sicherheit eher bei Dobrindt als bei den eigenen Anführern.
Man dürfe sich nicht beklagen, wenn Menschen den geltenden Rechtsweg nutzen, heißt es. Klingt einleuchtend, geht aber an der Sache vorbei. Erstens kennt auch das Recht Trampelpfade, die, wenn sie als Bundesstraße genutzt werden, die rechtsstaatliche Absicht ins Gegenteil verkehren. Nur weil etwas legal ist, muss es noch nicht erwünscht sein. Wäre es anders, könnten wir uns jede Diskussion über Steuerschlupflöcher ersparen.
Außerdem findet sich der Rechtsweg nicht von selbst, tatsächlich sind viele Menschen auf ihm ohne kundige Helfer rettungslos verloren. Man kann sich das natürlich so vorstellen, dass der arme Mensch aus Togo, kaum ist er in Deutschland angekommen, das Branchenbuch zur Hand nimmt und eine auf Asylrecht spezialisierte Kanzlei ausfindig macht. Sehr viel mehr spricht allerdings für die Annahme, dass ihn Flüchtlingsräte und Hilfsorganisationen vorher auf das richtige Pferd gesetzt haben, wenn er die Bundesrepublik Deutschland verklagt.
Allein in Berlin listet der Flüchtlingsrat 124 Anwälte auf, die sich mit Ausländer- und Asylrecht befassen. Die Masse macht hier das Geschäft. Verbände wie die Caritas oder Pro Asyl haben großzügige Rechtshilfefonds eingerichtet, aus denen juristischer Beistand bezahlt wird. Außerdem entfallen die Gerichtskosten, was das Klagerisiko senkt. Anders als bei anderen Verfahren übernimmt der Beklagte auch dann die Kosten für seine juristische Vertretung, wenn er gewinnt.
Um die Denkweise der Asylanwälte zu verstehen, empfiehlt sich ein Blick auf die einschlägigen Seiten. "Die Fristen sind kurz, weshalb schnell gehandelt werden muss", liest man unter "Rechtstipps" auf anwalt.de, einem der größten deutschen Anwaltsportale. Die Seite gibt sodann detaillierte Hinweise, wie man eine scheinbar verlorene Sache noch in einen Erfolg verwandeln kann.
"Sofern der Asylbewerber sehr krank ist (auch psychische Erkrankungen), können ärztliche Atteste eingeholt werden. Es muss dann dargelegt werden, dass eine Behandlung im Herkunftsland nicht möglich ist." Und: "Der Asylbewerber war in der Anhörung vor dem BAMF aufgeregt, traumatisiert oder sehr müde." Und weiter: "Oftmals versteht auch der Asylbewerber den Dolmetscher nicht richtig. Dies sollte auch dem Gericht deutlich gemacht werden."
Die Klageaussichten sind nicht gut, auch das gehört zur Wahrheit. Fast die Hälfte der Verfahren erledigt sich von selbst, weil die Betroffenen zwischenzeitlich aufstecken. Nur in jedem fünften Fall obsiegen die Kläger vor Gericht. Von den erfolgreichen Asylklagen wiederum entfällt die Mehrzahl auf Menschen aus Syrien, die sich dagegen wehren, dass ihnen das Bundesamt nicht den vollen Status als Flüchtling zuerkennen will.
Wer aus Pakistan oder Nigeria stammt, hat so gut wie keine Chance, vor Gericht einen Sieg davonzutragen, was die Anwälte freilich nicht davon abhält, es dennoch zu versuchen. Wer klagt, kann nicht abgeschoben werden, das bleibt immer als Vorteil.
Eine Möglichkeit besteht darin, den Zustand als gottgegeben zu akzeptieren. Das ist der Weg, den die Flüchtlingsorganisationen vorschlagen. Bleiberecht für alle, lautet ihre Lösung. Der andere Weg wäre, den Rechtsweg der Wirklichkeit anzupassen, also den Klageweg zu verengen und die Gerichtskosten wie in jedem anderen Verfahren auch dem Kläger bei einer Niederlage in Rechnung zu stellen.
Wer die Nutzung seiner Verwaltungsgerichtsbarkeit kostenlos macht, muss sich nicht wundern, wenn viele diesen Service nutzen. Auch ein Rechtsstaat kann zu großzügig sein.