Attentat in Solingen Ein "Unbekannt verzogen" wird zum Todesurteil

Ein Kommentar von Ellen Ivits

Aktualisiert am 13.09.2025 Lesedauer: 5 Min.

Der Attentäter von Solingen ist verurteilt. Ihn erwartet eine lebenslange Haft. Doch die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Denn sie wiederholt sich zu oft. Die Opfer zahlen den Preis für ein System, das versagt.

Der Attentäter von Solingen bei der Urteilsverkündung vor Gericht: Er tötete drei Menschen.
(Quelle: IMAGO/Guido Schiefer)

"Es kann jederzeit passieren, erklärte Nancy Faeser im gemütlichen Studio von Markus Lanz am vergangenen Dienstagabend. Die frühere Innenministerin meinte damit Anschläge und mörderische Angriffe von Menschen, die in Deutschland Asyl suchen. "Schlimmste Anschläge passieren in den schlimmsten Diktaturen", sagte sie noch. Es gebe nicht die eine Maßnahme, die man ergreifen könne, um Anschläge zu verhindern - selbst nicht unter rigorosen Regimen, wie solchen in Moskau, so Faeser.

Doch genau hier liegt Faser falsch. Es stimmt zwar: Auch ein Diktator Putin kann islamistische Anschläge nicht gänzlich verhindern. Und nicht jede Straftat ist vorhersehbar. Dennoch: Faeser und andere Politiker flüchten zu gerne in die allzu leichte Ausrede, dass es keine absolute Sicherheit geben kann. Dabei gibt es durchaus Maßnahmen, um Bluttaten wie die von Solingen verhindern zu können. Nur werden sie nicht genutzt - aus Fahrlässigkeit, Bequemlichkeit oder Überforderung deutscher Behörden.

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Fall von Issa al-Hasan

Die grausame Bluttat von Solingen ist dafür das beste Beispiel. Als der Syrer Issa al-Hasan am Abend des 23. August 2024 beim Stadtfest dort auf Besucher einstach, starben drei Menschen, acht wurden verletzt. Er zielte auf den Hals - heimtückisch von hinten, aus dem Dunkeln heraus.

Vor der Tat hatte er ein Bekennervideo aufgenommen, in dem er dem "Kalifen" der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) die Treue schwor. Als Tatmotive führte er später mal Vergeltung für die "Kreuzzüge" gegen Muslime in Bosnien oder im Irak an, mal die toten Kinder im Gazastreifen und deutsche Waffenlieferungen an Israel. Die Bundesanwaltschaft bezeichnete ihn als überzeugten Dschihadisten, der sich seit 2019 zunehmend radikalisiert habe.

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Überzeugter Dschihadist reist ungehindert nach Deutschland ein

(Quelle: t-online)

2022 konnte er dennoch ungehindert über Bulgarien in die EU einreisen. Nach dem Dublin-Abkommen wäre somit Bulgarien für sein Asylverfahren zuständig gewesen. Doch der Syrer durfte weiterreisen und stellte seinen Asylantrag in Deutschland, wo er abgelehnt wurde. Bulgarien stimmte zu, ihn nach der Abschiebung aufzunehmen. Der Syrer klagte gegen den Bescheid vor dem Verwaltungsgericht Minden.

Anfang Juni 2023 unternahm die Ausländerbehörde Bielefeld einen Versuch, den Syrer nach Bulgarien zu überstellen. Doch sie scheiterte, weil al-Hassan in seiner Unterkunft in Paderborn nicht angetroffen wurde.

Was taten die Behörden danach? Nichts. In der Unterkunft wurde er nicht noch einmal gesucht - auch nicht woanders. So konnte al-Hasan eine Regelung ausnutzen, die besagt: Kann ein Asylbewerber sechs Monate lang nicht an das EU-Land überstellt werden, das eigentlich für ihn zuständig ist, geht die Zuständigkeit auf das Aufenthaltsland über. Genau das geschah im Fall von al-Hassan.

Vier Tage nach Ablauf dieser Frist zog der Syrer seine Klage gegen die Rückführung nach Bulgarien zurück und erhielt in Deutschland subsidiären Schutz - eine Schutzform für Personen, denen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, etwa aufgrund eines bewaffneten Konflikts. Personen mit subsidiärem Schutz haben einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und einen Anspruch auf Sozialleistungen.

Die Ausländerbehörde teilte al-Hasan einer Gemeinschaftsunterkunft in Solingen zu. Nur wenige Hundert Meter von dort entfernt verübte er seinen hinterhältigen Angriff auf die Besucher des Stadtfests.

Nun wurde der 27-jährige Syrer zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch viele Fragen bleiben offen - nicht zuletzt die: Wie ein als gefährlich eingestufter Mann sich über Monate einem Abschiebeverfahren entziehen konnte? Für die Angehörigen der Opfer und die Verletzten dürfte das Urteil daher kein Trost sein.

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Fall von Muhammad A.

Genauso wie ein mögliches Urteil für die Eltern von Liana K. ebenfalls kein Trost sein wird. Die 16-Jährige wurde am 11. August vor einen Güterzug gestoßen. Als dringend tatverdächtig gilt Muhammad A. aus dem Irak.

Er reiste im September 2022 nach Deutschland ein. Bereits im Dezember desselben Jahres lehnte das Bundesamt seinen Asylantrag ab. Laut Dublin-III-Verordnung hätte er nach Litauen zurückgeführt werden sollen, dort war er zuerst in die EU eingereist. Doch Muhammad A. klagte gegen die Rückführung und durfte zunächst bleiben.

Erst im Februar 2025 wies das Verwaltungsgericht Göttingen die Klage ab. Damit war er ausreisepflichtig. Doch laut Ausländerbehörde Northeim war A. zu diesem Zeitpunkt "unbekannt verzogen".

Nach einem Folgeantrag tauchte er im April erneut in Friedland auf. Im Juli 2025 stellte die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen einen Antrag auf Abschiebehaft, doch das Amtsgericht Hannover lehnte ab. Begründung: Der Antrag sei so mangelhaft gewesen, dass er nicht einmal geprüft werden durfte. Auf eine Anfrage von t-online erklärte die Landesaufnahmebehörde, man habe den Antrag auf Abschiebungshaft des Tatverdächtigen nicht nur umfassend begründet, sondern auch auf den richterlichen Hinweis hin innerhalb kürzester Frist weitreichend ergänzt. "Die Behörde hat alle Tatsachen vorgetragen, die eine Haft hätten begründen können. Dies hat jedoch nicht zu einer Neubewertung des Sachverhaltes durch das Gericht geführt", heißt es in einer Stellungnahme.

Das ist nicht bloß ein Versagen, das ist Staatsversagen

(Quelle: Aßmann)

Zwischen dem Attentat in Solingen und dem mutmaßlichen Angriff auf Liana K. liegt fast ein ganzes Jahr - ein ganzes Jahr voller Klagen über die mangelhafte Zusammenarbeit der Behörden und noch lauterer Wahlversprechen vermehrter Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern. Schwerstkriminelle und terroristische Gefährder hätten hierzulande nichts verloren, erklärte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz noch vor der Bluttat in Solingen.

Doch geschehen ist offenbar nichts. Issa al-Hasan hat aus seiner islamistischen Radikalisierung keinen Hehl gemacht. Muhammad A. war mehrfach auffällig geworden, ist in Deutschland vorbestraft. Am Tag als Liana K. starb, war die Polizei mehrfach alarmiert worden, weil er randaliert hatte. Doch in beiden Fällen blieb das Wissen um ihre Gefährlichkeit folgenlos.

Beide hätten längst das Land verlassen müssen. Doch beide Abschiebungen scheiterten letztlich an der Bequemlichkeit der deutschen Behörden. "Unbekannt verzogen", "nicht angetroffen" - und schon sind Tür und Tor für bürokratische Schlupflöcher offen. Das Ergebnis: Behörden verschlafen Abschiebungen, Gerichte weisen mangelhafte Anträge zurück, und Gefährder laufen frei herum - bis Menschen sterben. Eine Geschichte, die sich wiederholt. Immer und immer wieder: Solingen, Aschaffenburg, Brokstedt.

Es geht daher hier nicht nur um ein individuelles Versagen, sondern um Staatsversagen. Die Opfer zahlen den Preis für ein System, das sich in Bürokratismus und Schlampigkeit verliert, statt Sicherheit zu bieten.

Wer Akten liegen lässt oder Fristen verschläft, trägt Mitverantwortung für das vergossene Blut, das auf diese Fehler folgt. Genauso wie diejenigen, die dieses Versagen schönreden, wie Nancy Faeser. Fehler dürfen nicht länger folgenlos bleiben, denn im schlimmsten Fall stehen Menschenleben auf dem Spiel.

zdf.de: "Markus Lanz vom 9. September 2025"


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