Ein Kommentar von Reinhard Müller
Verantwortlicher Redakteur für "Zeitgeschehen" und F.A.Z. Einspruch, zuständig für "Staat und Recht".
-Aktualisiert am 13.11.2021-08:58
"Ja, wir haben das geschafft." Auch diesen Satz kann man als Vermächtnis von Bundeskanzlerin Angela Merkel sehen. Er ist die Antwort auf ihre berühmte Ermunterung in der Flüchtlingskrise "Wir schaffen das".
Doch was haben wir geschafft? Zweifellos: Mit einer großen Kraftanstrengung sind seit 2015 insgesamt mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen und versorgt worden. Ungeachtet eines zeitweisen Kontrollverlusts haben der soziale Rechtsstaat und die Gesellschaft ihre Aufgaben in der Krise mehr als erfüllt. Die demokratischen Institutionen hielten stand, Unruhen brachen nicht aus. Merkel hat recht, wenn sie auf "wunderbare Beispiele" gelungener Integration von Migranten hinweist. Aber Gewinner der Krise war die AfD.
Der Strom von Flüchtlingen wurde letztlich durch einen Deal mit dem türkischen Autokraten Erdogan aufgehalten.
Die Aufnahme ist eben nur das eine, die langfristige Integration das andere. Schon deshalb verbietet sich heute eine abschließende Antwort.
Das schließt natürlich nicht aus, dass Flüchtlinge ein Bleiberecht, letztlich auch das Staatsangehörigkeitsrecht erwerben können. Aber die Vorstellung, die in Deutschland Wirklichkeit wurde, dass Zehntausende jeden Tag die Grenze überschreiten und dann schon wegen des Jahre dauernden Verfahrens hier bleiben und auch dann nicht abgeschoben werden, wenn sie kein Recht mehr haben, hier zu sein, führt das Asyl- und Flüchtlingsrecht ad absurdum. Das geht an die Grundlagen des Staates.
Auch wenn man das europäische Asylrecht für Schönwetterrecht hält: Auf das Recht konnte sich die Bundeskanzlerin (und nicht nur sie) 2015 jedenfalls nicht in dem Sinn berufen, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb. Natürlich war überhaupt nichts gegen die humanitäre Geste zu sagen, die gleichsam in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge aufzunehmen.
Anders ist das im Fall der Krise in Belarus. Hier handelt es sich um eine Art hybrider Kriegführung durch den Gewaltherrscher Lukaschenko, der von Putin gestützt wird. Er missbraucht herangekarrte Menschen in Not wie Schilde und Speere. Diesen Menschen muss geholfen werden. Man kann sie weder im Niemandsland erfrieren lassen noch in die Arme eines vor nichts zurückschreckenden Diktators zurücktreiben. Der Mensch darf nicht zum Objekt gemacht werden, das sollte europäischer Konsens sein.
Aber auch von diesem Fall darf nicht wieder das Signal ausgehen: Jeder, der es nach Europa schafft, darf bleiben (im Zweifel in Deutschland). Die Freizügigkeit im Innern des Kontinents für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital, eine immense Errungenschaft auf diesem von Kriegsgräbern übersäten Kontinent, ist überhaupt nur möglich, wenn an den Außengrenzen der EU wirklich kontrolliert wird.
Dass zudem die Staaten und nicht Brüssel Europas Herren sind und - bei prinzipieller Achtung des Vorrangs des Europarechts - das allerletzte Wort und auch Grenzen haben, das ist in Merkels Amtszeit untergegangen. Das gewisse Gespür für Staatlichkeit wird so schnell nicht wiederkommen.
Was für den Klimaschutz und für die Pandemiepolitik gilt, ist auch für die Migrationspolitik richtig: Wer sich vor notwendigen, wenn auch harten Maßnahmen scheut, der wird die Kontrolle über die Lage verlieren und letztlich in einem Demokratie-Dilemma stecken. Denn die Mittel, die er dann später anwenden muss, werden von den Menschen erst recht nicht akzeptiert werden. Und dann ist es zu spät. Es ist aber nie zu spät, den demokratischen Rechtsstaat als eine Hülle zu begreifen. Die ist sehr wertvoll, aber auch dünn.
Quelle: FAZ vom 13.11.2021