Von Michael Martens
Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Wien.
21.09.2024, 21:47 Lesezeit: 4 Min.
In Wien zeigte sich Nehammer bei der Pressekonferenz mit Mitsotakis zwar vorsichtig optimistisch über einen neuen Realismus Deutschlands in Migrationsfragen, übte aber zugleich in diplomatischem Ton deutliche Kritik: "Der deutsche Weg", sagte Nehammer in etwas verschnörkeltem Kanzleideutsch, habe "lange gebraucht, einer zu werden, der sich dem Realismus annähert". Er könne sich erinnern, dass der österreichische Innenminister Gerhard Karner (der ebenso wie Nehammer der konservativen ÖVP angehört) "sehr viele Gespräche" mit seiner deutschen Kollegin Nancy Faeser (SPD) geführt habe "und auf Unverständnis gestoßen ist, als wir gewarnt haben davor, dass das Migrationsthema weiter ein großes ist für die Europäische Union, (dass es) weiter eine große Herausforderung ist und wir alle gemeinsam uns anstrengen müssen, damit wir den Kampf gegen die illegale Migration führen". Er lobte, dass in Deutschland nun ein "Umdenken" beginne.
Europa müsse bei Rückführungen abgelehnter Asylbewerber besser werden und dafür auch "mit der Wucht" und der "Marktmacht" der EU arbeiten. Das alles werde künftig hoffentlich rascher durchgesetzt werden, "weil die Bundesrepublik Deutschland ein wichtiges Land der Europäischen Union ist, ein mächtiges Land aufgrund seiner Wirtschaftsleistung". Die Entwicklung in Deutschland werde dazu beitragen, Rückführungen zu erleichtern, mutmaßte Nehammer.
Auch Mitsotakis sprach über Deutschland. "Es ist nicht unsere Aufgabe, anderen europäischen Mitgliedstaaten vorzuschreiben, was ihre Politik sein sollte, aber die Realität ist, dass es Länder gibt in Europa, die einen sehr großen Reiz ausüben", sagte er unter anderem. In einem Interview wiederholte er kurz darauf kaum verhohlene Kritik: "Deutschland hatte eine extrem tolerante und, ich würde sagen, sozial großzügige Politik gegenüber Migranten, die jetzt eine große soziale Gegenreaktion ausgelöst hat."
Insbesondere durch die sogenannten Analogleistungen, also die Zahlung von Sozialhilfe sogar an abgelehnte Asylbewerber, die zur Ausreise verpflichtet sind und dazu auch in der Lage wären, erweist sich Deutschland aus der Sicht vieler EU-Partner als Magnet für immer mehr irreguläre Einwanderung. Zwar wurden die deutschen Gesetze "verschärft", weshalb sich abgelehnte Asylbewerber inzwischen 36 statt wie zuvor 18 Monate unberechtigt in Deutschland aufhalten müssen, um Bürgergeld zu erhalten. Dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt, wird in vielen EU-Staaten dennoch mit Unverständnis aufgenommen.
Andere Länder muten das ihren Steuerzahlern nicht zu. Die niederländische Regierung will abgelehnten Asylbewerbern ab 2025 keinerlei staatliche Unterstützung mehr zahlen. In Frankreich ist das schon so. In Dänemark gibt es nur noch Nahrungsmittel, Kleidung und Unterkunft in Abschiebelagern. Zypern, wo gemessen an der Bevölkerungsgröße zeitweilig noch mehr Asylanträge als in Deutschland gestellt wurden, schickt inzwischen nach eigenen Angaben mehr abgelehnte Asylbewerber zurück, als neue kommen.
Ein Grund dafür ist laut Innenminister Konstantinos Ioannou neben der Beschleunigung der Verfahren die Streichung staatlicher Unterstützung für abgelehnte Asylbewerber. Nur wer zur freiwilligen Ausreise bereit ist, bekommt dafür Geld vom Staat. Alle anderen bekommen, sobald ihr Asylantrag rechtsgültig abgelehnt wurde, nichts mehr. Eine Kampagne in sozialen Medien, die auf ein Publikum in Hauptherkunftsländern wie Nigeria, Kamerun oder der Demokratischen Republik Kongo zugeschnitten ist, soll die Botschaft vermitteln, bevor Migranten überhaupt aufbrechen.
Deutschlands Beharren auf einem Sonderweg wirkt da zusehends absurd. Ein Gesprächspartner aus der konservativen griechischen Regierungspartei Nea Dimokratia drückt es so aus: "Während der Eurokrise haben die Deutschen uns ständig gemahnt, unsere Hausaufgaben zu machen, und sie hatten ja auch recht damit. In der Migrationspolitik würden wir die Mahnung gern zurückgeben: Nun solltet ihr endlich eure Hausaufgaben machen." Das sei allemal besser, als durch dauerhafte Grenzkontrollen die Errungenschaften der Schengen-Zone zu untergraben. Ob Berlin die europäischen Signale hört?