FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Dienstag, 19.10.2021, 10:51
Es sind harte, ungeheuerlich klingende Vorwürfe. Sie werfen ein miserables Licht auf die Verhältnisse in deutschen Asylunterkünften und müssten, sofern sie sich als korrekt erweisen, dringend zu politischen Konsequenzen führen - insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Zustrom von Asylbewerbern nach Deutschland wieder deutlich zunimmt. So gingen bis Ende September rund 100.000 Erstanträge ein, etwa 35 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.
Das Problem: Schon jetzt herrschen in vielen Asylbewerberunterkünften Zustände, die von den Bewohnern als katastrophal, erniedrigend und gefährlich empfunden werden. Ihrer Einschätzung nach gleicht der Alltag in vielen Heimen einem Leben auf dem Pulverfass.
Wie groß die Unzufriedenheit ist, verdeutlicht eine FOCUS Online vorliegende Erhebung des Politikwissenschaftlers Nikolai Huke von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Huke erforscht die Lebensumstände in deutschen Flüchtlingsunterkünften und hat zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 mehrere Asylbewerber in Bremen, Hessen, Thüringen, Bayern, Brandenburg und Hamburg interviewt.
Die Ergebnisse seiner Recherchen wurden kürzlich in einem von Pro Asyl herausgegebenen Bericht veröffentlicht. Auch wenn die geschilderten Erfahrungen nicht repräsentativ sind und viele Aussagen der Migranten nicht bis ins Detail überprüft wurden: Der Tenor ist erschreckend.
Mitunter hat man das Gefühl, die aus Krisen- und Kriegsgebieten geflüchteten Menschen würden Deutschland nicht als sicheren Schutzraum begreifen, sondern als Bananenrepublik, ja sogar als eine Art Unrechtsstaat. In den Interviews erheben Asylbewerber schwerste Vorwürfe - unter anderem den des Rassismus - gegen Behördenmitarbeiter, Polizisten und sogar Ärzte!
FOCUS Online dokumentiert einige Aussagen:
Die Beschreibungen all dieser Vorgänge, sollten sie tatsächlich so stattgefunden haben, stellen schwerwiegende Vorwürfe dar. Doch es gibt weitere, noch viel heftigere Anschuldigungen. So behauptete ein Asylbewerber in der Interview-Reihe, Sicherheitsleute hätten seine Frau brutal misshandelt, doch eine angemessene Reaktion der Heim-Verantwortlichen sei ausgeblieben:
"Die Auseinandersetzung (mit den Securities) ging so weit, dass meine Frau irgendwann auf dem Boden lag. Auch sie wurde mehrfach ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezogen und in den Bauch getreten. Meine Frau wurde krankenhausreif geprügelt. Alle haben gesagt, sie muss jetzt ins Krankenhaus. Das Problem war aber: Wenn die Flüchtlinge von dort aus (der Erstaufnahmeeinrichtung) den Krankenwagen gerufen haben, waren die nicht bereit zu kommen. Und vom Personal wollte keiner den Krankenwagen rufen."
Damit erhebt der Asylbewerber den - strafbaren - Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung durch die Mitarbeiter der Unterkunft. Der Polizei wirft er in diesem Zusammenhang Rassismus vor:
"Die Polizei erschien dann vor Ort. Ich bin zu einem Beamten hingegangen und wollte mit ihm sprechen. Er sagte: Sei still.' Ich habe daraufhin geantwortet: Warum soll ich still sein? Weil ich ein Flüchtling bin? ,Ja, weil Sie ein Flüchtling sind. Sei still!', hat er gesagt."
Der Rassismus-Vorwurf taucht auch in Schilderungen anderer Asylbewerber auf. Etwa hier:
" Wenn ich als schwarze Person in das Zimmer der Securities gehe oder dorthin, wo der Hausmeister ist, ist die Art, wie ich behandelt werde, sehr anders als die, wie andere behandelt werden."
Auch gegen den Mediziner einer Erstaufnahme-Einrichtung werden rassistische Vorwürfe erhoben:
"Der Arzt im Camp, alle Menschen wussten, dass er ein Rassist ist. Er hat auf keine Art und Weise irgendjemanden behandeln wollen und wenn, dann sehr oberflächlich und unheimlich unfreundlich. Es gab viele Fälle, wo Kinder schwer erkrankt waren mit unterschiedlichen Entzündungsarten. Leber, Nieren, bis zu ganz schlimmen Entzündungen, die dann nicht ins Krankenhaus gehen durften. Das hat zu vielen großen Problemen geführt. Dass er Rassist war, das war nicht (nur) unsere Wahrnehmung, sondern auch das Personal hat gesagt, er sei ein Rassist."
Ob die schweren Anschuldigungen der Asylbewerber gegen den Arzt, gegen Polizisten und gegen Heim-Verantwortlichen auch nur ansatzweise begründet sind, lässt die Erhebung des Politikwissenschaftlers Nikolai Huke unbeantwortet. Im Vorwort seiner Analyse heißt es, die Gespräche seien "unter dem Eindruck von Traumatisierung, Anspannung und Dauerbelastung" geführt worden. "Hier oder da mag ein Vorwurf überzogen erscheinen oder eine Erfahrung zu negativ gedeutet."
Allerdings: "In ihrer Gesamtheit und Einhelligkeit weisen die Äußerungen ... klar auf strukturelle Probleme hin: bewusste Isolation, finanzielle, soziale und medizinische Mangelversorgung, Rassismus."
Die Probleme würden oft schon kurz nach der Ankunft in Deutschland beginnen, so der Politikwissenschaftler, nämlich bei der Anhörung durch Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Eine Asylbewerberin habe berichtet:
"Da wurde mit mir so gesprochen, als ob ich, ehrlich gesagt, kein Mensch, kein normaler Mensch wäre ... Sie wollen dir nicht zuhören ... Was sie wollen, ist, dass du Deutschland verlässt."
Eine andere Frau sagte über ihre Anhörung beim Bamf:
"Das war kein Interview, das war ein Verhör. Ich hatte ein Gefühl von: Was habe ich verbrochen, dass du so mit mir umgehst?'"
Auch im weiteren Asylverfahren zweifeln etliche Bewerber an der Rechtsstaatlichkeit von Entscheidungen deutscher Behörden. Einer sagte:
"Ich weiß nicht, ob es in Bayern ein Gesetz gibt, das für alle gilt. Die Regierung aber müsste wirklich mal die Aktivitäten derjenigen überprüfen, die als Beamte in den Behörden arbeiten. Viele von ihnen folgen den Gesetzen nicht. Sie machen einfach, wozu sie Lust haben."
Über ihren Alltag in den Unterkünften wissen viele der befragten Asylbewerber kaum etwas Gutes zu berichten. Die meisten klagen über räumliche Enge, fehlende Privatheit, Lärm, Stress und zum Teil als lebensbedrohlich empfundene Konflikte mit anderen Bewohnern. Zitat:
"Ich wurde einmal von einem Mitbewohner bedroht, er werde mir den Kopf abschneiden." Ein anderer fürchtete um seine persönlichen Sachen:
"Man weiß nicht, wo dieser Typ (der Mitbewohner) herkommt. Manche waren kriminell und im Gefängnis, aber nach dem Gefängnis kommen sie wieder ins Lager und du wohnst mit einem Kriminellen im Zimmer. Immer wenn du essen gehst, musst du deinen Laptop und deine Dokumente mitnehmen. Abends sind viele Leute betrunken, konsumieren Drogen oder haben Auseinandersetzungen."
Ein Asylbewerber erzählte, dass man in der Unterkunft "nah am Verrücktwerden" sei, weil keiner in irgendeiner Art und Weise Ruhe habe:
"Du kriegst alles mit, was in deiner Nachbarschaft passiert. Kinder schreien, Familien telefonieren sehr laut, hören Musik. Das ist furchteinflößend. Und deshalb werden auch viele psychisch krank."
Auch die Essensversorgung in Landeseinrichtungen für Asylbewerber wurde von fast allen Interviewten kritisiert. Einige Beispiele:
Durch die Corona-Pandemie haben sich die Probleme in Flüchtlingsunterkünften laut der Untersuchung weiter verschärft. Selbst einfache Hygienemaßnahmen einzuhalten, sei schwierig, "denn Badezimmer, Duschen und Toiletten mussten auch in der Pandemie mit vielen anderen Menschen geteilt werden". Die Folgen: hohe Infektionszahlen und enorme psychische Belastungen.
Ein Betroffener berichtete:
"Nachdem es den ersten Corona-Fall gab, hat sich die Krankheit wie wild verbreitet. Sie haben gesagt, dass zwei Leute auf meiner Etage Corona haben, aber sie haben keine Maßnahmen ergriffen, um diejenigen, die Corona haben, zu transferieren und nur diejenigen hierbleiben zu lassen, die kein Corona haben." Eine Asylbewerberin erzählte:
"Ich war einen Monat und zwei Wochen in Quarantäne ... Der Mann bei mir nebenan hat versucht, Selbstmord zu begehen. Er hat Gift getrunken, zum Glück für ihn ist er nicht gestorben. Ich konnte nicht mehr. Als die Ärzte in mein Zimmer kamen, sagte ich zu ihnen: Wenn ich noch einen Tag in diesem Zimmer bleiben muss, wenn ihr mich einen Tag länger einsperrt, werdet ihr meine Leiche in diesem Zimmer finden.' Weil es einfach zu viel war."
Die in dem Interview-Bericht zusammengefassten Probleme sind nicht wirklich neu. Aber durch die subjektiven, zum Teil hochemotionalen Schilderungen durch Betroffene werden sie auch für Außenstehende greifbar. Autor Nikolai Huke spricht von "teils gravierenden Grundrechtsverletzungen" in deutschen Asylunterkünften und von einem "Gefühl der Entmenschlichung", das viele Flüchtlinge hätten.
"Die Ergebnisse verdeutlichen, dass grundlegende Änderungen notwendig sind, um eine menschenwürdige Unterbringung bereits ab dem Zeitpunkt der Ankunft in Deutschland zu gewährleisten", schreibt Huke. Und für Pro Asyl bestätigte die Untersuchung einmal mehr, dass Großunterkünfte für Flüchtlinge "stigmatisierende Zeichen der Ausgrenzung" sind und deshalb abgeschafft gehörten.
Die große Frage ist: Was passiert in den nächsten Wochen und Monaten? Was geschieht mit den vielen Menschen, die demnächst die deutsche Grenze passieren und hier untergebracht werden müssen?
Die Erfahrungsberichte aus bereits bestehenden Asyl-Einrichtungen lassen Schlimmes befürchten.
Quelle: focus.de vom 19.10.2021