Von Rebecca Barth, RBB, zurzeit Kiew
Stand: 23.07.2022 14:39 Uhr
Kollaboration mit dem Feind - und zwar massenweise in den Behörden: Weil dieser Vorwurf im Raum steht, entließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Generalstaatsanwältin und den Geheimdienstchef. Doch es gibt Stimmen, die diese offizielle Begründung anzweifeln. Es handele sich um ein Scheinargument. In Wahrheit gehe es um Macht.
Denn einer soll von den Entlassungen profitieren: Andrij Jermak, Leiter des ukrainischen Präsidialamts. Vor allem Teile der Zivilgesellschaft sehen Jermaks Rolle kritisch. Witalij Schabunin, Leiter des Zentrums für Korruptionsbekämpfung, sagt, Jermak habe "nicht nur eine Menge Macht in seinen Händen", er habe auch den Zugang zum Präsidenten eingeschränkt: "Alle, die mit Selenskyj seinen politischen Weg begonnen haben, sind nicht mehr dabei."
Seit Selenskyjs Amtsantritt 2019 gab es viele Personalwechsel. Der Anwalt und ehemalige Filmproduzent Jermak übernahm vor etwa zwei Jahren die Leitung des Präsidialamts. Heute ist der 50-Jährige mit dem Drei-Tage-Bart Selenskyjs wichtigster Vertrauter.
Erstmals machte sich Jermak einen Namen in Verhandlungen über den Austausch von Gefangenen zwischen der Ukraine und Russland. Wegen seiner guten Kontakte nach Russland galt er als Hoffnungsträger in Friedensverhandlungen mit Moskau. Es dauerte nicht lange und ukrainische Medien begannen, Jermak als heimlichen Vizepräsidenten zu bezeichnen.
Der Politologe Oleksij Haran erklärt, dass Jermak ein langjähriger Kollege und Freund von Selenskyj sei. "Er war sein Anwalt und sie haben viele Jahre vor der Präsidentschaftswahl zusammengearbeitet." Und deshalb sei Jermak "ziemlich einflussreich".
Bild: AFP
Bei der Kritik an Jermak fällt fast immer auch ein anderer Name: Oleh Tatarow, Jermaks Stellvertreter und unter dem russlandnahen ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch ein hochrangiger Polizeibeamter.
Tatarow und Jermak - in den Augen vieler Anti-Korruptionsaktivisten sind sie mitverantwortlich dafür, dass der Kampf gegen Korruption so schleppend vorangeht, erklärt Witalij Schabunin. Sein Vorwurf:
Sie ernennen absichtlich keinen Leiter der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft und verzögern absichtlich den Beginn des Auswahlverfahrens für den Leiter des Antikorruptionsbüros.
Damit, so die Kritik, würden beide Behörden gelähmt.
Gegen Tatarow ermittelte das nationale Anti-Korruptionsbüro vor zwei Jahren, doch der Fall wurde der Behörde entzogen und anschließend nicht weiter verfolgt. Dafür verantwortlich war damals der Mann, der nun die Leitung des Geheimdienstes übernimmt.
Die Aktivisten befürchten nun, dass Jermak und Tatarow ihren Einfluss in der ukrainischen Politik weiter ausbauen. Doch Jermak widerspricht. Er gehe nicht gestärkt aus dem Personalwechsel hervor. Bei den Vorwürfen handele es sich um Verschwörungstheorien.
Auch Präsidentenberater Mychajlo Podoljak dementiert: Derlei könne "nur von Leuten gesagt werden, die das Regierungssystem in der Ukraine nicht vollständig verstehen und Herrn Selenskyj oder Herrn Jermak überhaupt nicht kennen".
Die Attacken gegen Jermak dienten nur einem Zweck: dem Präsidententeam zu schaden, sagt Podolyak gegenüber der ARD. Und, so sein Vorwurf: Die Attacken hätten ihren Ursprung in Russland.
Tatsächlich fand sich Jermak schon in der Vergangenheit im Zentrum eines Skandals wieder. Nach Recherchen von Journalisten soll Jermak Informationen über eine Operation des Geheimdienstes zur Festnahme von russischen Söldnern vorab durchgestochen haben - die Operation scheiterte.
Viele Anschuldigungen gegen Jermak können zum aktuellen Zeitpunkt nicht belegt werden. Dennoch gilt er bei ukrainischen Experten als extrem einflussreich.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine sei nicht klar, wer die wichtigsten Entscheidungen trifft - der Präsident oder der Leiter des Präsidialamts, kritisiert Schabunin: "Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes liegt so viel Einfluss in den Händen einer einzigen Person, und das ist nicht der Präsident."
Aber ist er der Strippenzieher im Hintergrund? Präsidentenberater Podolyak widerspricht. Jermak führe als Leiter des Präsidialamts lediglich die Aufgaben aus, die er von Selenskyj bekomme, und zwar auf professionelle Art und Weise.
Kritiker hingegen befürchten eine Monopolisierung der Macht. Das aber verhindere die ukrainische Verfassung, meint Politologe Haran. Zwar stehe er dem, was Jermak tut, kritisch gegenüber. Aber die ukrainische Gesellschaft sei pluralistisch - und die Verfassung "so aufgebaut, dass sie die Monopolisierung der Macht in den Händen des Präsidenten verhindert".
Rebecca Barth, WDR, 21.7.2022 · 12:04 Uhr
Quelle: Tagesschau