Von Axel Bojanowski
Chefreporter Wissenschaft
Stand: 25.10.2020
Es war ein Coup der Bundesregierung: Um die Energiewende voranzutreiben, schrieb sie einen vermeintlich pfiffigen Satz in einen neuen Gesetzentwurf: Die Nutzung erneuerbarer Energien sollte demnach zu einer Frage der öffentlichen Sicherheit werden. Der neue Paragraf würde es erheblich erleichtern, flächendeckend Windkraftanlagen zu bauen, so das Ziel.
Der Gesetzentwurf soll in den nächsten Wochen vom Bundestag beschlossen werden und im kommenden Jahr in Kraft treten. Doch ein Rechtsgutachten, das WELT AM SONNTAG vorliegt, entzaubert das Vorhaben.
Ins neue Erneuerbare-Energien-Gesetz hat die Bundesregierung einen Paragrafen geschrieben, der es erleichtern soll, sich über den Artenschutz hinwegzusetzen:
Eine Bürgerinitiative und ein Naturschutzverein hatten die Anwaltskanzlei Caemmerer Lenz beauftragt, den neuen Gesetzentwurf zu prüfen. Das Gutachten scheint geeignet, das Gesetz in der geplanten Form zu stoppen.
Zwar sieht die sogenannte Vogelschutz-Richtlinie in Ausnahmefällen die Möglichkeit der Tötung geschützter Vögel vor, wenn dies im Interesse der öffentlichen Sicherheit liegt. Ein einzelner Mitgliedstaat der Europäischen Union könne den Begriff "öffentliche Sicherheit" im Sinne der Vogelschutz-Richtlinie aber nicht eigenständig auslegen.
Das geplante Gesetz umgehe das in der europäischen Vogelschutz-Richtlinie vorgesehene Tötungsverbot, das nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten stehe, heißt es.
Das Bundeswirtschaftsministerium selbst habe Gutachten erstellen lassen und veröffentlicht, die resümierten, dass die Versorgungssicherheit mit Energie weder aktuell noch in überschaubarer Zukunft in Gefahr ist, konstatiert das Gutachten. Öffentliche Sicherheit ergebe sich also auch nicht in dieser Hinsicht.
Die Gutachter halten das geplante Erneuerbare-Energie-Gesetz für eine Umgehungsstrategie der Rechtslage. Sie schlussfolgern: "Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs belegt, dass solche Umgehungsstrategien nicht akzeptiert werden können."
Die Bundesregierung indes gab sich noch diese Woche überzeugt von der Schlagkraft des neuen Gesetzes: "Ausnahmen von den Zugriffsverboten des Artenschutzes sind möglich, wenn dies im Einzelfall im Interesse der öffentlichen Sicherheit notwendig ist", heißt es in einem Antwortschreiben des Bundeswirtschaftsministeriums an den FDP-Bundestagsabgeordneten Lukas Köhler von dieser Woche, das WELT AM SONNTAG vorliegt.
Köhler ist allerdings skeptisch: "Der Neubau von Windkraftanlagen muss unbedingt im Einklang mit den Interessen der Bevölkerung sowie des Naturschutzes geschehen", sagt der klimapolitische Sprecher seiner Partei. Der Ausbau erneuerbarer Energien dürfe "nicht zu pauschalen Einschränkungen beim Naturschutz führen".
Auch Enteignungen zum Bau neuer Anlagen müsse ausgeschlossen werden, fordert Köhler. So weit will die Bundesregierung anscheinend nicht gehen: Für Enteignungen, so schreibt das Wirtschaftsministerium, enthalte das neue Gesetz für erneuerbare Energien "keine Rechtsgrundlage".
Quelle: welt.de vom 25.10.2020