Altes Europa: Auf der Welt der Moralapostel, zuhause unfähig zu regieren

Geschichte von Immo von Fallois

02.06.2024 o 4 Minuten Lesezeit

Der alte Kontinent verliert an Attraktivität. Was Europa schnell lernen muss, wenn es attraktiv sein und Vorbild bleiben will. Ein Gastbeitrag.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
© AFP

Will man vor der großen europäischen Wahl im Juni das derzeitige eigenartige Phänomen Europas verstehen, so schaut man auf ein politisches Paradoxon. Ein Paradoxon ist ein vordergründiger Widerspruch, der auch bei genauerem Hinsehen auf ein großes Stück Wahrheit hinweist.

Europa also, dieser alte kultur-, wirtschafts- und geopolitische Kontinent gehört immer noch zu einem der fünf Weltzentren, wie es der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler unlängst in seinem Bestseller "Welt in Aufruhr" hervorhob. Und das immerhin neben den USA, China, Russland und Indien.

Dieses Europa, und das ist der erste Teil des Widerspruchs, des Paradoxons, vertritt zum einen vehement auf der ganzen Welt immer und immer wieder moralischen Großanspruch: Schaut, so scheinen die überwiegende Mehrzahl der europäischen Politiker weltweit in den vielen nicht demokratischen Ländern zu betonen, wir als Demokraten leben in der moralisch guten Welt. Infolgedessen fordern wir euch auf, ebenso unsere diesbezüglichen Werte zu übernehmen oder wenigstens in Teilen anzunehmen. Nur dann würde die globale Welt zu einer besseren werden. So erlebten wir es in Katar während der Fußball-WM, bei den Besuchen im diktatorischen-kapitalistischen China oder aber in der katastrophalen Fehleinschätzung der europäischen Politiker vor dem Ukrainekrieg hinsichtlich einer wirtschaftspolitischen Einbindung Putins.

Der Siegeszug von semidemokratischen Parteien

Die fatale Fehleinschätzung gegenüber Putin lautete: Wenn wir schon nicht die moralischen Vorzüge unseres Systems verdeutlichen können, dann werden wir aber doch mit unseren ökonomischen Zusicherungen überzeugen. Dann werden wir mit einer modernen "Appeasement"-Politik - die im Übrigen heute noch in Europa im rechten und linken Lager großen Zuspruch findet - irgendwann Erfolg haben und zur Entspannung beitragen.

Wie wir heute erkennen müssen, ist der Siegeszug der liberalen freiheitlichen Demokratie zugunsten einer Zunahme populistischer Politikentwürfe gefährdet. Darauf hat der renommierte Mainzer Historiker Andreas Rödder zu Recht hingewiesen. Diese Tendenz zeigt sich in ganz Europa bei den Wahlen darin, den populistischen Parteien Zuspruch zu geben, weil sie scheinbar Antworten parat haben, wie einer geopolitischen Welt mit zunehmender Verunsicherung und Aggressivität wirksam zu begegnen sei. Diese Tendenz hin zu "rechten", allenfalls semidemokratischen Parteien wird voraussichtlich ein wichtiges Ergebnis der bevorstehenden Europawahl sein.

Deutschland auf dem Rücksitz der Weltpolitik

Und noch immer hält dieses Europa richtigerweise die Flagge der Freiheit als unverrückbares Recht des Einzelnen hoch. Gleichzeitig aber meint Europa vielerorts in einem Anflug von moralischem Größenwahn, dass überall auf der Welt nach diesen Grundsätzen gelebt und geführt werden müsse. Diese allerorts spürbare Überschätzung politischer Wirkungsmacht führt zur zunehmenden Verkennung der politischen Realität. Entscheidender noch: Es führt zur geopolitischen Schwächung eines großen Kontinents, weil es Gefahr läuft, nicht mehr genügend ernst genommen zu werden. Denn man muss bei aller radikalen Konsequenz erkennen: Moralische Werte sind zwecks eigener Haltung entscheidend, kühle und machbare Realpolitik aber erfolgversprechender. Das ist das eine, das moralisch permanent drängende Europa.

Das andere Europa, und das ist der zweite Teil des großen Widerspruchs, hat sich über Jahrzehnte militärisch und geopolitisch schwach gemacht. Und Deutschland, als jahrzehntelange wirtschaftliche und politische Macht in Europa, hat dabei stets mit seiner dunklen Vergangenheit verhängnisvoller Diktaturen kokettiert. So sehr dieses Trauma verständlich scheint, lehnte sich Deutschland bequem auf den Rücksitz der Weltpolitik. Frankreich hingegen wirkt durch sein prunkvolles Präsidialsystem und eigene schnelle Vorschläge des Präsidenten immer vordergründig stark, wirklich entscheidend ist die französische Politik außenpolitisch aber seit Jahrzehnten nicht geworden. Und es ist sehr traurig, den außen- und innenpolitischen Niedergang der einst stolzen englischen Nation, trotz aller britischen Tapferkeit, seit vielen Jahren zu beobachten. Zudem scherten und scheren einige Staaten in Europa, so einst Polen und heute auch Ungarn, aus der Gemeinschaft der EU aus, generieren sich als "Satellitenstaaten" eines möglichen zukünftigen Präsidenten Trump. Bei Polen muss man sehen, inwieweit sie zurück zur liberalen Demokratie wirklich finden.

Europa: Zwischen Machtbesessen- und Machtvergessenheit

Indem sich also Deutschland und andere großen europäischen Staaten zurückhalten, verlassen sie sich auf die Willenskraft der Amerikaner. Diese USA, so die jahrzehntelange Vergewisserung, gleichwohl von rechts und links dauerhaft ob ihrer weltpolitischen Aktivitäten in Europa kritisiert, würden es im verantwortungsvollen politischen "Driver-Seat" schon richten. So war und ist es bei vielen weltpolitischen Krisen - sei es beim Ukrainekonflikt, beim Thema Nahost oder beim Thema Cyberabwehr - um nur einige wenige Beispiele aufzuführen.

Das Paradoxon ist demnach, dass Europa bedingt durch sein politisches und kulturelles Selbstbewusstsein sich moralisch vollständig auf der richtigen Seite sieht. Auf der anderen Seite jedoch hält sich der alte Kontinent geopolitisch zurück, um ja nicht in globale Verantwortung zu geraten. Dieser Widerspruch zwischen Machtbesessen- und Machtvergessenheit schwächt den alten Kontinent. Es ist interessant zu sehen, dass dieses Paradoxon nur sehr wenige politische Verantwortungsträger derzeit offen und ehrlich aussprechen.

Diesen Widerspruch muss Europa dringender denn je auflösen, will es in der politischen Welt nicht gravierend an Einfluss verlieren. Wenn es sich jetzt nicht zu entscheidenden Entschlüssen durchringt, mutiert es nur noch zum "Schaufenster kultureller Großartigkeiten".

Generell ist die EU ein Friedenskonstrukt, das trotz aller ausgeschütteten finanziellen Wohltaten heute von vielen Menschen als undurchschaubar, bürokratisch überladen - und insbesondere bevormundend angesehen wird. Da die EU als Staatenverbund wesentlich stärker als ein einzelner Mitgliedstaat ist, sollte dieser Vorteil viel populärer gestaltet werden.

Stärkere Präsenz und Selbständigkeit der EU

Was also könnte und sollte ein zukünftig starkes Europa tun, um in sich geschlossener und zustimmungskräftig zu werden? So stellt sich die Frage, warum nicht wenigstens einige EU-Institutionen in östlichen Ländern Station machen könnten, um diese Länder aufzuwerten und Kraft Wertschätzung enger an Europa zu binden? Anbetracht der geomilitärischen Weltlage muss zudem über eine europäische Armee nicht nur nachgedacht, sondern entscheidende Schritte hierzu eingeleitet werden. Ein möglicher zukünftiger US-Präsident Trump würde Europa zu mehr Selbstständigkeit geradezu zwingen, will sein "America First" zwangsläufig weniger Zuwendung bedeutet.

Und das renommierte Institut für Europäische Politik hatte bereits vor zwei Jahren grundlegende EU-Reformen verlangt, ohne dass etwas Entscheidendes in dieser Hinsicht passierte. So sei eine Reform der europäischen Währungsreform vonnöten, um koordiniert auf drohende Wirtschaftskrisen eingehen zu können. Bisher habe es ein "Muddling-Through", ein Durchwursteln der EU gegeben, welches höchst ineffektiv gewesen sei.

Es scheint so, als ob Europa eine klare Ansage braucht, um sich aus der Erstarrung seiner Bürokratie zu lösen. Und um weniger moralisches Gerede weltweit zu senden, sondern europäische Tatkraft Vorort auszuloten. Nur sind die Konsequenzen eines möglicherweise "rechten" Europas und eines zukünftigen Präsidenten Trump sehr hohe Hürden, um die notwendigen Veränderungen endlich voranzubringen.


Quelle: Berliner Zeitung