Allensbach-Umfrage: Ost und West sind sich ähnlicher als gedacht

Von Thomas Petersen

22.08.2024, 05:35 Lesezeit: 6 Min.

Oft wird gesagt, dass Ost- und Westdeutschland zwei grundverschiedene Gesellschaften seien. Das stimmt so nicht, wie aktuelle Zahlen belegen. Nur in manchen Fragen sind die Unterschiede frappant.

Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen in zwei Wochen wird es voraussichtlich aufgeregte Diskussionen über die Frage geben, ob sich die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern von der Demokratie abwenden.

Doch es ist auch anzunehmen, dass diese öffentlichen Diskussionen maßgeblich von großstädtischen und überwiegend westdeutschen intellektuellen Eliten in Politik und Medien geführt werden und damit aus einer Außenperspektive heraus. Es werden dann Fragen gestellt werden wie: "Was ist denn da los?" oder "Driftet der Osten ab?". "Da" oder "Der Osten", das sind die anderen.

Daran ist zunächst einmal nichts Ehrenrühriges, und bis zu einem bestimmten Grad ist es auch unvermeidlich, doch es führt zu einem Missverständnis der Gesellschaft in Ostdeutschland, in der in mancherlei Hinsicht eine etwas andere Stimmung herrscht, als man von Westdeutschland aus annehmen könnte. Dies zeigen deutlich die Ergebnisse der aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der F.A.Z.

Gleiche Sorgen in Ost und West

Man kann oft hören, Ost- und Westdeutschland seien zwei grundverschiedene Gesellschaften, die sich weltanschaulich immer mehr voneinander entfernten. Doch die Umfragen bestätigen dies nicht. Alles in allem unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche bezogen auf die meisten Themen nicht allzu stark voneinander. Dies zeigen beispielsweise die Ergebnisse der Frage, was einem zurzeit Sorgen bereitet.

Dazu wurde eine Liste mit 18 Punkten zur Auswahl vorgelegt. Dass ihnen der Krieg in der Ukraine große Sorgen bereite, sagten 71 Prozent der Westdeutschen und 73 Prozent der Ostdeutschen. Die Inflation machte 67 Prozent der Westdeutschen und 75 Prozent der Ostdeutschen große Sorgen.

Dass Deutschland in militärische Konflikte hineingezogen werden könnte, fanden 63 Prozent der Befragten im Westen und 72 Prozent im Osten sehr besorgniserregend. Bei dem Punkt "Dass immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen" betrug das Verhältnis 59 Prozent (West) zu 69 Prozent (Ost).

Ostdeutsche insgesamt etwas besorgter

Man könnte die Liste noch weiter fortsetzen. Es gibt durchaus graduelle Unterschiede zwischen den Antworten West- und Ostdeutscher, oft, wenn auch nicht bei allen Punkten, sind Ostdeutsche etwas besorgter als Westdeutsche, doch die Reihenfolge der am häufigsten genannten Sorgen ist sehr ähnlich. Von einer fundamental anderen Wahrnehmung der Lage kann keine Rede sein.

Deutliche und auch systematische Unterschiede zwischen Ost und West gibt es allerdings bei Fragen, die die Bindung an die Demokratie und ihre Institutionen betreffen. So stimmten in der aktuellen Umfrage 27 Prozent der Westdeutschen, aber 54 Prozent der Ostdeutschen der Aussage "Wir leben nur scheinbar in einer Demokratie, tatsächlich haben die Bürger nichts zu sagen" zu.

Bei der These "Sozialismus ist eine gute Idee, die nur schlecht umgesetzt wurde" beträgt das Verhältnis 18 Prozent im Westen zu 43 Prozent im Osten. Bei der Aussage "Wir brauchen einen starken Politiker an der Spitze, keine endlosen Debatten und Kompromisse" ist der Abstand mit 49 (West) zu 60 Prozent (Ost) kleiner, weist aber in die gleiche Richtung.

Diese Ergebnisse lassen sich nicht anders deuten denn als Zeichen für eine schwächere Demokratieverankerung im Osten. Natürlich ist bei Weitem nicht jeder, der diesen Aussagen zustimmt, allein schon deswegen als Gegner der Demokratie einzustufen, doch es handelt sich um Hinweisfragen, in der Fachsprache spricht man von Indikatoren: Je mehr Menschen solchen Aussagen zustimmen, desto schwächer ist das Fundament der Demokratie.

Der Befund, dass in den ostdeutschen Ländern die Demokratieverankerung schwächer ist als im Westen, ist alles andere als eine Neuigkeit. Der Aussage "Mit der Demokratie können wir die Probleme lösen, die wir in der Bundesrepublik haben" stimmten in der aktuellen Umfrage 55 Prozent der Westdeutschen und nur 27 Prozent der Ostdeutschen zu. Diese Frage wurde zum ersten Mal im Jahr 1991 gestellt. Seitdem schwankten die Anteile derjenigen, die angaben, mit der Demokratie könne man die Probleme des Landes lösen. Die aktuellen Werte sind vergleichsweise, aber nicht außergewöhnlich niedrig.

Der Abstand zwischen den Antworten Ost- und Westdeutscher aber blieb in der gesamten Zeit praktisch unverändert. Das Gleiche gilt für die ebenfalls seit 1991 regelmäßig gestellte Frage "Glauben Sie, die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?". Vor 33 Jahren beantworteten 80?Prozent der Westdeutschen und 31?Prozent der Ostdeutschen die Frage mit "Ja". Heute sind es 74 gegenüber 38?Prozent. Man hat nach der Wiedervereinigung geglaubt, die Vorzüge von Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit seien so offensichtlich, dass man nicht für sie werben und sie nicht aktiv verteidigen müsse. Dieser Fehler hat sicherlich die Grundlagen für den Aufstieg populistischer Bewegungen in Ostdeutschland geschaffen, doch er kann nicht der konkrete Auslöser der aktuellen Verschiebungen im Parteiensystem sein.

Weniger als ein Drittel fühlt sich als Bürger zweiter Klasse

Auch die verbreitete Vorstellung, dass Ostdeutsche in der Bundesrepublik systematisch benachteiligt seien, wird als Faktor der Radikalisierung wahrscheinlich überschätzt. Auf die Frage "Was meinen Sie, fühlen sich Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse, oder fühlen sich die meisten nicht als Bürger zweiter Klasse?" antworteten in der aktuellen Umfrage 59 Prozent der Ostdeutschen, ihrer Ansicht nach fühlten sich die meisten Menschen im Osten als Bürger zweiter Klasse. Fragte man dagegen, ob man sich selbst als Bürger zweiter Klasse fühle, antworteten nur 32 Prozent mit "Ja". Eine Mehrheit von 51 Prozent in Ostdeutschland widersprach ausdrücklich.

Der Anteil derjenigen, die sich selbst als Bürger zweiter Klasse bezeichnen, liegt heute damit weitaus niedriger als im Jahr 2002. Damals hatten noch 57 Prozent diese Antwort gegeben.

Für den gegenwärtig wachsenden Unmut kann dieser Faktor damit kaum verantwortlich sein. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass das Schlagwort vom Bürger zweiter Klasse heute mehr aus den Medien als aus der ostdeutschen Bevölkerung selbst kommt.

Intoleranz in der öffentlichen Diskussion

Eine andere Ursache des Ärgers über die Politik in den ostdeutschen Bundesländern wird dagegen wahrscheinlich in der öffentlichen Diskussion unterschätzt: das Gefühl, immer mehr bevormundet zu werden. In den letzten Jahren hat in der Bevölkerung allgemein der Eindruck zugenommen, dass man im Alltag in seiner Freiheit beschränkt ist durch die Intoleranz in der öffentlichen Diskussion.

Mittlerweile ist knapp die Hälfte der Deutschen der Ansicht, man könne seine politische Meinung nicht mehr frei äußern. Gleichzeitig wächst bei den Bürgern der Unmut über einen zunehmend als übergriffig empfundenen Staat, von dem sie den Eindruck haben, er wolle ihnen bis ins Kleinste vorschreiben, was sie zu denken und wie sie zu leben hätten. Und meistens, so der Eindruck, wird das, was sie selbst im Alltag tun, als falsch, wenn nicht gar moralisch verwerflich gebrandmarkt.

Bei den Bürgern kommt die Botschaft an: "Du hast die falschen politischen Ziele, du fährst das falsche Auto, du isst das Falsche, du bist ein unmoralischer Mensch."

Zwei Drittel fühlen sich bevormundet

Dieses Gefühl ist heute auch in Westdeutschland weitverbreitet, doch in Ostdeutschland ist dies noch stärker der Fall. Dies zeigt sich an den Ergebnissen der Frage: "Neulich sagte uns jemand: ‚Ich habe das Gefühl, die Politik möchte mir immer mehr vorschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe.' Sehen Sie das auch so, oder sehen Sie das nicht so?" 54 Prozent der Bevölkerung insgesamt antworteten auf die Frage, sie sähen das auch so. Nur 31 Prozent widersprachen und meinten ausdrücklich, sie sähen das nicht so.

In Ostdeutschland hatten dagegen sogar fast zwei Drittel der Befragten, 63 Prozent, den Eindruck, die Politik wolle ihnen immer mehr vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen hätten, während es in Westdeutschland "nur" 53 Prozent waren.

Man muss sich vor Augen halten, dass der Versuch des Staates, den Menschen minutiös ihre Werte und ihr Verhalten vorzuschreiben, in Ostdeutschland wahrscheinlich auf größeren inneren Widerstand stößt als im Westen, weil die Menschen hier über Jahrzehnte hinweg die Erfahrung mit einem totalitären Staatswesen haben machen müssen, das sie in keinem Winkel ihres Lebens in Ruhe ließ. Der Charakter vieler aktueller öffentlicher Diskussionen weckt da ungute Erinnerungen, was wiederum viele Westdeutsche, die keine solchen Erfahrungen machen mussten, nicht verstehen.

Wenn Ostdeutsche sich über eine Meinungsdiktatur beklagen, die sie an die DDR erinnere, reagieren Westdeutsche darauf nicht selten empört mit dem Verweis darauf, dass man das doch nicht mit den Zuständen in der DDR vergleichen könne, und schütteln den Kopf über die vermeintliche Unfähigkeit der Ostdeutschen, eine Demokratie von der Diktatur zu unterscheiden.

Dabei verstehen sie nur nicht, worauf die ostdeutsche Gegenseite hinweisen will: Natürlich wissen die meisten Ostdeutschen sehr gut, dass die Bundesrepublik keine Diktatur ist. Doch sie haben genug Erfahrungen mit einem Staat gemacht, der ihnen bis ins Privatleben hinein vorschreiben wollte, was sie zu denken und wie sie sich zu verhalten hätten, um zu wissen, dass sie das nie wieder haben wollen.

Man muss annehmen, dass hier ein nicht unbedeutendes Motiv liegt, sich Protestparteien zuzuwenden. Deswegen ist es auch kaum verwunderlich, dass der Anteil derjenigen, die der Aussage "Ich habe das Gefühl, die Politik möchte mir immer mehr vorschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe" zustimmen, unter den Anhängern der AfD und des BSW am größten ist.

Das Gefühl, gegängelt zu werden, führt zu Widerstand. Man kann das demokratietheoretisch eigentlich als einen begrüßenswerten Reflex betrachten. Doch wenn er nur von radikalen Parteien aufgegriffen wird, unterhöhlt dies letztlich die Demokratie.


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