FOCUS-online-Gastautor Ahmad Mansour
Mittwoch, 15.02.2023, 14:11
Polizeibeamte werden systematisch mit Böllern beworfen, Rettungskräfte bei ihren Einsätzen behindert und angegriffen, Krankenwagen, Polizeibeamte und Feuerwehrpersonal gezielt in Hinterhalte gelockt und attackiert. Jugendliche, meist mit Migrationshintergrund, werden von Familien gedeckt und in deren Wohnungen vor der Polizei versteckt.
Das vorläufige Resümee der Silvesternacht 2022/2023 in Berlin (Stand 17.1.): 56 Angriffe auf Polizisten und 69 auf Feuerwehrleute, dabei wurden 47 Polizeibeamte und 15 Einsatzkräfte der Feuerwehr verletzt und 26 Fahrzeuge der Polizei beschädigt. Viele der Einsatzkräfte wurden traumatisiert und werden die Bilder dieser Nacht noch viele Jahren mit sich tragen. Soweit die Tatsachen.
Dass solche Ereignisse die Öffentlichkeit bewegen und in absolute Aufregung versetzen, ist nur allzu gut verständlich. Schließlich passiert es nicht zum ersten Mal: die Ausschreitungen in Frankfurt und Stuttgart im Sommer 2020, die antisemitischen Ausfälle im Mai 2021, die Freibäder-Gewalt im vergangenen Sommer.
Ein Blick nach Europa macht das Phänomen noch sichtbarer: Gewalt in Schweden, Ausschreitungen von marokkanischen Fußball-Fans in Frankreich und Belgien und die kurdischen Ausschreitungen nach dem rechtsextremen Terror in Paris.
Dass man darüber berichten und diskutieren möchte, Ursachen benennen will und benennen darf, sollte in einer Demokratie und entsprechend unseren journalistischen Standards eine Selbstverständlichkeit sein.
Die anderen versuchen, durch den Hinweis auf andere Ereignisse das Geschehen zu relativieren, nach dem Motto: "So etwas gibt es überall und gab es immer!" Wieder andere versuchen anhand von Zahlen und Statistiken alternative Realitäten zu schaffen.
Dass nach dem vergangenen Sonntag viele Politiker aus dem rot-rot-grünen Umfeld unzufrieden mit den Ergebnissen der Berliner Wahlen sind, ist verständlich. Dass sie sich andere Ergebnisse gewünscht hätten, ist auch nachvollziehbar. Auch ich hätte mir gewünscht, dass die FDP im Abgeordnetenhaus bleibt und ein möglicher Koalitionspartner wird, aber in einer Demokratie muss man die Wählerentscheidung respektieren.
Man muss sich fragen: Warum waren wir nicht in der Lage, die Menschen zu überzeugen? Wo haben wir mit der Kommunikation, mit unserer Politik die Menschen nicht erreicht? Man darf auch kritisieren, wie beharrlich die CDU darauf gepocht hat, dass die Vornamen der für die Silvesterkrawalle verantwortlichen Täter veröffentlicht werden. Auch darf man die pauschale Aussage von Friedrich Merz über die "kleinen Paschas" geschmacklos finden.
All das gehört in einer offenen Debatte dazu. Dass aber verstärkt prominente Politiker, sogar Wähler als Rassisten beschimpft werden, weil sie anders gewählt haben, als es sich die jeweils Rufenden gewünscht hätten, ist eine neue Qualität in einer narzisstischen Politik, ausgeführt von Überzeugungstätern, die jegliche Fähigkeit verloren haben, ihr Tun und ihre Aussagen zu reflektieren.
Wie konnte es dazu kommen? In Deutschland werden Debatten zunehmend mit religiösem Eifer betrachtet und geführt. Dabei gibt es gute und böse Argumente, weltoffene, moralische und rassistische, böse Positionen. Beim Debattieren scheint es darum zu gehen zu missionieren, Menschen von ihren bösartigen Gefühlen und Einstellungen zu befreien. Wer mitmacht, gehört zur moralisch überlegenen Gruppe. Wer sich verweigert mitzumachen, muss delegitimiert werden.
Menschen mit Migrationshintergrund, Flüchtlinge und Muslime sind für diese Politiker nichts anderes als marginalisierte Minderheiten in unserer Gesellschaft, die ausschließlich als Opfer einer rassistischen Mehrheitsgesellschaft zu betrachten sind. Diese identitätspolitische Linke hat kein echtes Interesse an Flüchtlingen, Muslimen oder Menschen mit einer Migrationsgeschichte.
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Sie nehmen sie nicht als gleichberechtigte Bürger in diesem Land wahr, sondern nur als Vertreter bestimmter Gruppen. Sie erkennen nicht, dass diese Menschen heterogen sind. Sie können eine Bereicherung sein, aber auch eine Herausforderung.
Für sie sind sie eher so etwas wie Kuscheltiere, die paternalistisch vor sich selbst und den Rechtsextremen geschützt werden sollen. Dass einzelne von ihnen sich daneben benehmen und dabei ihre Sozialisation, Religion, Erziehungsmethoden eine Rolle spielen, darf genau so wenig sein, wie die Vorstellung, Polizisten könnten auch Opfer von Gewalt werden.
Solche Einstellungen und Sichtweisen haben zur Folge, dass sich die Debatten verengen. Das Sagbare begrenzt sich auf ein Minimum, eine klaffende Lücke entsteht zwischen der wahrgenommenen Realität der Menschen in ihrem Alltag und der Berichterstattung darüber.
Menschen haben längst das Gefühl, ihre Themen, Gefühle, Ängste haben kaum noch Platz in den öffentlichen Diskursen. Schlimmer noch, sie haben das Gefühl, dass sie nicht darüber reden dürfen, dass sie Gefahr laufen, als Rechtsradikale bezeichnet zu werden, wenn sie ihre Meinung äußern.
Deshalb treiben solche Diskurse die Menschen an die Ränder der Gesellschaft und des politischen Spektrums. Genau das ist für eine Demokratie gefährlich.
Demokratische Parteien müssen deshalb ein Interesse daran haben, Diskurse zu eröffnen, Sichtweisen zu ermöglichen, die nicht nur auf uneingeschränkte Zustimmung treffen. Tabus sind dabei nicht hilfreich, genauso wenig wie Wählern anderer Parteien als der eigenen, pauschal Rassismus vorzuwerfen.
Über den Kolumnisten
Ahmad Mansour, lebt seit 14 Jahren in Deutschland, ist Namensgeber und Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention. Als junger Palästinenser in Israel ist Ahmad Mansour beinahe radikaler Islamist geworden. Heute zählt er zu den wichtigsten Islamismus-Experten Deutschlands.