FOCUS-online-Kolumnist Ahmad Mansour
Samstag, 30.11.2024, 21:12
Berlin: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt sich nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber für ein Selfie zusammen mit einem Flüchtling fotografieren.
Mehr als neun Jahre sind vergangen, seit Merkel die historische Entscheidung traf, die Grenzen für Flüchtlinge nicht zu schließen. Damals war die Stimmung in Deutschland eine andere: Tausende standen an Bahnhöfen mit Schildern wie "Herzlich Willkommen", warfen Teddybären und boten an, Geflüchtete zu begleiten - ja, sogar in ihren eigenen vier Wänden aufzunehmen. Deutschland wollte der Welt zeigen, dass es eine offene, tolerante Gesellschaft ist, bereit, Verantwortung zu übernehmen und Menschlichkeit zu leben.
Doch seitdem ist viel passiert. Viele der Flüchtlinge haben in Deutschland eine neue Heimat gefunden, doch viele andere sind zwar physisch angekommen, emotional jedoch nicht. Die Debatten um Kriminalität, die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln, Antisemitismus und Islamismus haben die öffentliche Wahrnehmung stark geprägt. Abschiebungen, Grenzkontrollen, überforderte Kommunen und eine schwindende gesellschaftliche Akzeptanz dominieren heute die Diskussion um Migration.
Aus der anfänglichen Begeisterung ist Ernüchterung geworden. Die Euphorie und das kollektive Engagement von 2015 sind einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung gewichen. In der Frage, wie mit Migration umzugehen ist, zeigt sich ein Deutschland, das heute gespaltener ist, denn je.
Die Realität hat uns längst überholt! Dass heute geldgierige, skrupellose Schleuser darüber entscheiden, wer bei uns Asyl erhält, wirft Fragen auf. Ebenso die Problematik, dass sich die Identität von Asylbewerbern kaum klären lässt, wenn Pässe und Papiere fehlen. Und die wirklich Schutzbedürftigen, vor allem Frauen und Kinder, haben zurzeit kaum eine Chance, Europa als Asylsuchende zu erreichen.
Heute wissen wir, dass Abschiebungen nur bedingt durchführbar sind, dass 2015 viele die unübersichtliche, unklare Situation ausnutzen, um aus sicheren Drittstaaten in die Bundesrepublik zu gelangen. Angelockt von Wohlstand, Arbeit und Sozialstaat reisen auch heute noch viele Menschen über Nachbarstaaten ein.
Über Jahre mehren sich nun bereits die Warnsignale. Die Sicherheitsorgane beurteilen die damalige Entscheidung ebenfalls kritisch.
Die Kriminalstatistiken zeigen besorgniserregende Trends, parallel wächst bei vielen ein subjektives Unsicherheitsgefühl. Faktisch messbar ist der Anstieg antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung, erst recht seit dem 7. Oktober 2023. Schulen sind überfordert, jüdische Communities fühlen sich nicht mehr hinreichend geschützt. Dies geht einher mit der Zunahme islamistischer Radikalisierung - auch unter Flüchtlingen: Reale Probleme, die offen angesprochen werden müssen.
Diese Debatte allein moralisch zu führen, wie es Merkel jetzt mit ihrem Buch "Freiheit" tut - Schwarz und Weiß, Gut und Böse - bringt uns nicht weiter. Ängste und Sorgen dürfen nicht tabuisiert werden.
In dieser Frage wirkt Merkel seltsam gestrig, wie jemand, der 2015 stecken geblieben und in den letzten Jahren die öffentliche Debatte in Deutschland nicht verfolgt hat. Heute haben Teile der Grünen und der SPD sie in dieser Frage rechts überholt.
Es muss klar werden, dass Integration in erster Linie eine Bringschuld der Neuankömmlinge ist. Sie müssen die Grundwerte dieser Gesellschaft akzeptieren und verinnerlichen und danach leben.
Merkel wählt den schönen Titel "Freiheit" für ihr Buch. Das Interesse an anderen Kulturen, das sie empfiehlt, kann uns auch offenbaren, dass viele der anderen Kulturen nicht viel Freiheit kennen. Dass es dort autoritäre, patriarchalische, hierarchische und gewaltaffine Strukturen gibt. Dass die Freiheit von Frauen, Kindern, Homosexuellen, Juden, Christen und Andersgläubigen in vielen Ländern wenig zählt.
Es braucht einen klaren, politischen Willen, Menschen, die aus der Unfreiheit in die Freiheit kommen, aus der Autokratie in die Demokratie, Werte zu vermitteln wie Meinungsfreiheit oder historische Verantwortung für vergangenes Unrecht.
Integration ist ein komplexer Prozess. Zweifellos müssen Ankommende emotionale Zugänge zur Mehrheitsgesellschaft bekommen und begleitet werden. Aber das ist nur eine Hälfte des Prozesses. Die andere Hälfte liegt bei den Ankommenden. Sie brauchen den unbedingten Willen, sich zu integrieren.
Angela Merkel betont nur die eine Hälfte des Prozesses. Es scheint fast, als sei diese Strategie bewusst gewählt. Das ist nur folgerichtig, denn in ihrer Politik nach 2015 hat sie sich bemüht, genau diese kritischen Punkte zu ignorieren und zu tabuisieren.