Veröffentlicht am 11.10.2009 | Lesedauer: 5 Minuten
Von Sophie Mühlmann
Ist Hamid Karsai der rechtmäßige afghanische Präsident? 54,6 Prozent der Stimmen hat er angeblich errungen, als die Afghanen im August ihren neuen Staatschef wählten. Ein Pyrrhussieg. Dass es dabei nicht mit rechten Dingen zuging, haben erste Kritiker schon unmittelbar nach der Wahl beklagt. Und die Stimmen wurden immer lauter. Inzwischen ist es belegt: Bei den Wahlen am 20. August ist massiv gefälscht worden. Gerade werden die Stimmen neu ausgezählt. In dieser Woche wird endlich das amtliche Endergebnis erwartet. Dann wird sich zeigen, ob Karsai tatsächlich mehr als die Hälfte der Stimmen errungen hat oder ob er sich doch noch einer Stichwahl stellen muss - die ganz anders für den Amtsinhaber ausgehen und seinen Kontrahenten Abdullah Abdullah in eine weit bessere Position bringen könnte.
Bei dem Disput um die Wahlfälschung sind die Vereinten Nationen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die UN, insbesondere ihr Mann in Afghanistan, Kai Eide, haben eine zweifelhafte Rolle gespielt. Auszählungs- und Wählerlisten, die von Mitarbeitern der UN vor Ort gesammelt und ausgewertet worden waren, wurden nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch den Behörden vorenthalten. Die Fälschungen wurde verschleiert, ein Skandal, der nicht nur die Glaubwürdigkeit der afghanischen Wahl, sondern auch die der UN ins Wanken gebracht hat.
Eides Stellvertreter, Peter Galbraith, hatte den Norweger beschuldigt, die Daten bewusst zurückzuhalten, weil sie ein schlechtes Bild auf Karsai werfen würden. Der ehemalige US-Botschafter hatte öffentlich erklärt, er habe "nicht länger schweigen können". Die zweifelhafte Wahl sei ein "Desaster, das hätte vermieden werden können". Stattdessen habe Eide "sich entschieden, die Gefahr der Wahlfälschung nicht zu sehen, und als es passiert war, leugnete er die Tatsachen und hat sie seitdem konstant heruntergespielt". Harte Worte - für die Peter Galbraith seines Amtes in Kabul enthoben wurde.
Wählerdaten veröffentlicht und den Wahlbetrug bewiesen. Und jetzt, da alles auf dem Tisch ist, erklärte auch UN-Missionschef Kai Eide am Sonntag in Kabul erstmals öffentlich, der Betrug sei "bedeutend" gewesen.
Die Erhebungen zeigen zum Beispiel, dass Karsai in manchen Provinzen Zehntausende Stimmen mehr gewonnen haben will, als überhaupt Wähler zu den Urnen gegangen waren. So hatte Karsai angeblich im südlichen Helmand 112.873 von 134.804 Stimmen errungen. Dabei gehen die UN davon aus, dass dort höchstens 38.000 Personen ihre Stimme abgegeben haben, möglicherweise sogar nur rund 5000. Karsais angeblich so klarer Sieg ist deutlich angreifbarer, als er und seine Gönner es sich wünschen. Von 5,5 Millionen Stimmen sind immerhin 1,5 Millionen äußerst suspekt. 1,1 Millionen waren Karsai zugeschrieben worden, 0,3 Millionen Abdullah.
Was ist nun zu erwarten? Zöge man alle fragwürdigen Stimmen ab, fiele Karsais Anteil auf unter 47 Prozent. Damit würde eine zweite Wahlrunde notwendig. Allerdings wird es bis dahin fast Winter sein, und die Stichwahl wäre bis zum kommenden Frühjahr unmöglich. Ein gefährliches Machtvakuum in einem Land, in dem die Widerstandsbewegung der Taliban täglich an Einfluss gewinnt. Daher ist es wahrscheinlich, dass die Wahlkommission eine salomonische Entscheidung trifft: Sie wird einige Stimmen annullieren, aber nicht so viele, dass eine zweite Wahlrunde nötig wird. Damit bliebe Karsai der Wahlsieger.
Dies allerdings wird Abdullah und den Rest der Opposition nicht zufriedenstellen. Hinzu kommt, dass auch unter den vier Millionen "echten" Wählerstimmen nicht alle sauber sind. Denn neben den gefälschten gab es sicher auch ein gehöriges Maß an gekauften Stimmen. Für die Afghanen selber kam die Wahlfälschung gar nicht so überraschend. Experten fürchten jedoch, dass es gerade die öffentliche Empörung im Ausland ist, das Medienspektakel über diese "schmutzige" Wahl, die dem Land nun am meisten schadet. In einer Zeit, da die finanzielle und militärische Unterstützung im Westen für das Karsai-Regime sowieso abnimmt, ist die öffentliche Meinung entscheidend. Kommt dieses Regime nun korrupt und betrügerisch daher, könnten es sich die Länder zweimal überlegen, ob sie weiterhin Geld und Menschenleben investieren wollen.
Karsai, sollte er also ein weiteres Mal auf sein Amt eingeschworen werden, muss zunächst einmal Schadensbegrenzung betreiben. Er muss die Opposition milde stimmen, die sich zunehmend ausgebootet fühlt. Er hat die Mehrheit der paschtunischen Wähler für sich gewonnen, aber seine Kampagne, die ethnischen Minderheiten auf seine Seite zu ziehen, hat nur mäßig angeschlagen. Weil General Dostum für ihn die Werbetrommel gerührt hatte, war Karsai recht erfolgreich bei den Usbeken. Seine Allianz mit den Hazara-Führern Khalili und Mohaqqeq hat sich hingegen nicht ausgezahlt: Er hat nur ein Drittel der Hazarastimmen gewonnen.
Auch seine Entscheidung, den Tadschiken Mohammad Fahim zu seinem Stellvertreter zu machen, ging nicht auf, 80 bis 90 Prozent der Tadschiken haben Abdullah gewählt. Dies ist besonders heikel, da das Offizierskorps der Armee und die Sicherheitskräfte überwiegend aus Tadschiken bestehen. Insbesondere, wenn sich die ausländischen Truppen irgendwann in näherer Zukunft aus Afghanistan zurückziehen, brächte ihn eine Entfremdung von den Tadschiken in eine unmögliche Lage.
Karsai hat nun also zwei Möglichkeiten: Entweder muss er die Tadschiken brutal aus den Schlüsselpositionen entfernen, oder er muss sich ihnen annähern und sie dafür entschädigen, dass er bei den Wahlen weit besser betrügen konnte als sie.
Quelle: welt.de