Prozess am Landgericht München

Abschiebung gerät außer Kontrolle: Mit letzter Kraft wehrt Polizist Messer-Angriff ab

FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer

Donnerstag, 22.10.2020, 16:17

Der 39-jährige Kingsley C. aus Nigeria sollte Deutschland bereits 2017 verlassen. Doch erst im Oktober 2019 rückten Münchner Polizisten aus, um die Abschiebung durchzusetzen. Der Afrikaner wehrte sich und ging mit einem Messer auf sie los. Jetzt schilderte ein Beamter vor Gericht den dramatischen Kampf auf Leben und Tod. Göran Schattauer/AdobeStock/iStock/Composing: Sascha Weingartz
Der Angeklagte Kingsley C., links sein Verteidiger Oliver Schmidt.

Eine der unrühmlichsten Bilanzen, die das Bundesinnenministerium unter Ressortchef Horst Seehofer (CSU) alljährlich vorstellen muss, betrifft die Rückführung von ausreisepflichtigen Personen in ihre Heimat.

Unrühmlich deshalb, weil nicht einmal die Hälfte aller behördlich angeordneten Abschiebungen am Ende auch wirklich klappen. Allein 2019 mussten von 57.000 geplanten Rückführungen rund 32.000 abgesagt werden, das sind mehr als 56 Prozent.

Einer der Hauptgründe für das Debakel: Die betroffenen Ausländer tauchten kurz vor der Abschiebung unter und waren für die Behörden nicht greifbar. Oder sie leisteten derart heftigen Widerstand, dass die Aktion abgebrochen werden musste.

Messer-Angriff: Abschiebung gewaltsam verhindert

Ein Mann, dessen Fall in die Seehofer-Statistik des vergangenen Jahres fällt, steht derzeit vor dem Landgericht München. Er heißt Kingsley C. und ist 39 Jahre alt. Kaum Schulbildung, berufslos, ohne Job, kein Wort Deutsch, nicht vorbestraft. Er stammt aus Nigeria.

Die Vorwürfe gegen ihn: versuchter Totschlag, versuchte gefährliche Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte im besonders schweren Fall. Er soll sich 2019 in München seiner Abschiebung gewaltsam widersetzt und dabei sechs Polizisten überrumpelt haben. Dass kein Beamter zu Tode kam, grenzt an ein Wunder.

Seit 2014 in Deutschland: Flucht aus religiösen Gründen

Der Fall zeigt, wie schnell die Rückführung eines Ausländers aus dem Ruder laufen kann. Und er wirft die Frage auf: Wie gut sind Polizisten eigentlich auf solche Extremsituationen vorbereitet? Im konkreten Beispiel muss man konstatieren: Erschreckend schlecht.

Kingsley C. hat nicht das Recht, sich dauerhaft in Deutschland aufzuhalten. Man könnte auch sagen: Er lebt illegal hier, und das schon sechs Jahren, seit dem 17. November 2014.

Er kam über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Italien, die Schweiz. Den deutschen Behörden erklärte Kingsley C., er sei aus religiösen Gründen geflüchtet. In Nigeria hätten Dorfbewohner seine christliche Familie mit "bösen Zaubern" überzogen und massiv bedroht. Im Gericht trägt der Angeklagte demonstrativ eine lange Halskette mit Kreuz. Den Vorsitzenden Richter spricht er mit "My Lord" an.

Bamf-Entscheid 2017: "Sofortiger Vollzug" der Abschiebung

Gut zwei Jahre nach seiner Einreise schien das Kapitel Europa für den heute 39-Jährigen beendet: Im Januar 2017 ordnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) seine Abschiebung nach Nigeria an und mahnte dabei den "sofortigen Vollzug" der Maßnahme an.

Doch erst über zweieinhalb Jahre später, am 23. Oktober 2019, sollte die Rückführung des Mannes dann endlich über die Bühne gehen. Insgesamt sechs Polizisten und Polizistinnen wollten Kingsley C. aus der Wohnung seiner damaligen Freundin im Münchner Stadtteil Neuhausen holen. Am Ende mussten die Vertreter der Staatsmacht um ihr Leben fürchten.

Michael Kappeler/dpa
Leipzig 2019: Polizeibeamte bringen einen abgeschobenen Mann aus Afghanistan in ein Charterflugzeug.
Eskalation in der Küche: Gezielter Griff zum Messer

Laut Anklage hat sich Kingsley C. heftig gegen seine Abschiebung gewehrt. Zunächst wollte er aus dem Flur, in dem insgesamt vier Polizisten standen, in die Küche laufen. Ein Beamter packte seinen Arm, konnte den großen, kräftigen Mann aber nicht halten. Kingsley C. zerrte den heute 61 Jahre alten Polizisten mit in die Küche und griff sich gezielt ein Messer der Marke "Koch Line" (Klingenlänge 20,5 Zentimeter).

Zwei Beamte stürzten sich auf den Nigerianer und drückten ihn auf den Küchentisch. Trotz der Übermacht gelang es ihnen nicht, den Mann zu entwaffnen. Er riss sich los und rannte mit dem Messer in der Hand aus der Küche. "Ihm kam es darauf an, aus der Wohnung zu fliehen und sich so der Festnahme und Abschiebung nach Nigeria zu entziehen", so die Staatsanwaltschaft.

Hochdramatisch: Polizist schildert Kampf auf Leben und Tod

Im Flur traf Kingsley C. auf einen Polizisten, der zunächst außerhalb der Wohnung postiert war. Er stand unter dem angekippten Küchenfenster der Erdgeschosswohnung und hatte gehört, dass innen eine Rangelei stattfand. Also rannte er hoch in die Wohnung. Im Flur kam ihm Kingsley C. entgegen. Vor Gericht schilderte der Polizist - er tritt als Nebenkläger auf und hat die renommierte Münchner Rechtsanwältin Annette von Stetten an seiner Seite - die dramatischen Sekunden, in denen es um Leben und Tod ging.

"Der Beschuldigte kam auf mich zu, ohne etwas zu sagen. Er hob den rechten Arm, da sah ich ein Messer." Der Beamte hatte keine Chance, seine Waffe zu ziehen und zu schießen. Kingsley C. stand etwa 50 Zentimeter vor ihm und stach mit dem Messer in Richtung seines Halses. Dabei nahm der Täter in Kauf, dass er den Polizeihauptmeister "tödlich verletzen würde", so die Anklage.

"Wie ein Wahnsinniger": Beamter griff in Klinge des Messers

Geistesgegenwärtig riss der Polizist seinen linken Arm hoch und griff in die Messerklinge. Mit voller Kraft ("Ich habe so fest zugedrückt wie ich konnte") umklammerten seine Finger die Schneide. Die Messerspitze war nur zehn Zentimeter von seinem Hals entfernt. "Wie ein Wahnsinniger" habe er gedrückt, um nicht erstochen zu werden.

Als er die Klinge zu fassen bekam, spürte er, "wie der Beschuldigte nachdrückte", um den Hals doch noch zu treffen. Schließlich schaffte es der Polizist, dem Täter das Messer aus der Hand zu drehen. Es fiel zu Boden. Kingsley C. stürzte, rappelte sich auf, floh aus der Wohnung und versteckte sich auf dem Balkon eines anderen Hauses. Dort wurde er kurze Zeit später festgenommen.

Polizist: "Bin dem Tod öfters von der Schippe gesprungen"

Dass der Polizist den an einen James-Bond-Film erinnernden Messer-Nahkampf überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Die meisten anderen Beamten hätten den Angriff wohl kaum abwehren können. Aber in diesem Fall hatte es Kingsley C. mit einem sehr erfahrenen, kampferprobten Beamten zu tun. Er war bei mehreren Auslandseinsätzen dabei, in Bosnien, im Kosovo, in Kambodscha, in Afghanistan. "Ich bin dem Tod schon öfters von der Schippe gesprungen", sagte Polizeihauptmeister M. vor Gericht.

Der Beamte erklärte, dass er durch seine Berufserfahrungen im Ausland "ein ziemlich hohes Maß an Eigensicherung" betreibe. Bei der geplanten Abschiebung von Kingsley C. in München habe er spezielle Handschuhe aus seinem Afghanistan-Einsatz getragen. Ohne diesen Schutz wäre der feste und am Ende wohl lebensrettende Griff in die Messerklinge wohl kaum möglich gewesen. "Ich war selbst überrascht, dass ich es geschafft habe, ihm das Messer abzunehmen", so der Polizist.

Darf Ausgang eines Abschiebe-Einsatzes Glückssache sein?

Von der Staatsanwältin auf die psychischen Folgen der Messerattacke angesprochen, antwortete der Polizist: "Den Moment werde ich nie in meinem Leben vergessen." Und natürlich wisse er, dass die Sache auch anders hätte ausgehen können, dass er hätte "sterben können". Aus seinen Worten geht hervor: Er und seine Kollegen hatten großes Glück.

Aber darf der Ausgang eines brisanten Abschiebe-Einsatzes Glückssache sein? Gibt es bei der Polizei keine Vorgaben, wie man reagiert, wenn ein Täter unvermittelt zu einem Messer greift? Diese Fragen interessierten auch das Gericht. Es wollte - neben dem eigentlichen Tatgeschehen - herausfinden, warum die Lage so eskalieren konnte.

Rätselhaft: Auf engstem Raum sechs Polizisten überrumpelt

Selbstverständlich gebe es bei der Polizei Pläne, wie man "mit bestimmten Situationen umgeht", erklärte der Beamte M. Aber Polizisten seien auch nur Menschen. "Sobald eine Waffe im Spiel ist, schreit jemand normalerweise sofort: ‚Waffe, Messer'!" Dann seien alle anderen Kollegen gewarnt und könnten reagieren. Im konkreten Fall sei dies unterblieben. "Hätte ich gewusst, dass es einen Messerkampf gibt, wäre ich mit gezogener Waffe in die Wohnung gegangen."

Auch der Vorsitzende Richter zeigte sich verwundert darüber, dass die beiden Polizisten, die den mit einem Messer bewaffneten Kingsley C. auf den Küchentisch drückten, keinen Alarm schlugen: "Das ist doch das Erste, was man erwarten würde - dass sie schreien ‚Achtung, Messer!'" Überhaupt sei es komisch, dass ein einzelner Mann auf engstem Raum sechs Polizisten überrumpeln und flüchten könne.

Angeklagter bestreitet Angriff: "Wollte mich selbst töten"

Der Angeklagte Kingsley C. bestätigte im Prozess, dass er sich mit Händen und Füßen gegen seine Abschiebung gewehrt hat. "Die wollten mich nach Nigeria deportieren. Ich war völlig schockiert und habe am ganzen Körper gezittert." Immer wieder habe er die Polizisten angefleht: "Bitte, bitte lasst mich hier! Ich habe Familie!" Dabei habe er auf seine Freundin gezeigt, die verängstigt neben ihm stand und den gemeinsamen Sohn Justin im Arm hielt. Der Junge war damals elf Monate alt.

Als die Polizisten darauf bestanden, ihn mitzunehmen, habe er zum Messer gegriffen. Allerdings habe er damit nicht die Beamten töten wollen, sondern sich selbst: "Ich wollte mich umbringen", so Kingsley C. vor Gericht. Dass er versucht habe, auf einen Polizisten einzustechen, stimme nicht. Ob er mit dieser Behauptung vor Gericht durchkommt, ist mehr als zweifelhaft. Polizeihauptmeister M., der den potenziell tödlichen Messerstich gegen sich gerade noch abwenden konnte, erklärte zur Version des Angeklagten: "Das ist eine Lüge."

Am 27. Oktober soll das Urteil gesprochen werden.


Quelle: focus.de vom 22.10.2020