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02.11.2024, 16.46 Uhr o aus DER SPIEGEL 45/2024
Foto: Sebastian Gollnow / picture alliance / dpa / dpa-
Im Gesicht der jungen Frau ist der Anflug eines Lächelns zu erkennen. Im schwarzen T-Shirt steht sie in einer Gruppe auf einer Treppe. "Finanzanwärterinnen und Finanzanwärter 2024", so lautet der Text zu dem Foto im Intranet eines Berliner Finanzamts.
Für die 19-Jährige muss es ein schöner Moment sein. Wenn alles gut läuft, ist es der Beginn ihrer Karriere im Staatsdienst. Schafft sie die mehrjährige Ausbildung, wird sie in Zukunft prüfen, ob Steuerzahler ihren Pflichten nachkommen.
Ein verantwortungsvoller Job, für den weitreichende Zugriffsrechte auf persönliche Daten von Bürgerinnen und Bürgern nötig sind. Finanzbeamte erfahren viel und dürfen zu Hause wenig darüber erzählen. Schon bald wird die Frau als Beamtin auf Widerruf an verschiedenen Stellen in Berliner Finanzämtern arbeiten, um Berufspraxis zu sammeln.
Nicht allen in der Berliner Verwaltung ist wohl dabei.
Die Finanzanwärterin hat enge familiäre Bindungen zum berüchtigten Abou-Chaker-Clan, einer Familie, deren männliche Mitglieder teils zu den großen Namen der Berliner Unterwelt zählen. Clanangehörige sind verantwortlich für Verbrechen wie den sogenannten Pokerraub im Jahr 2010 in einem Luxushotel. Die Täter erbeuteten rund eine Viertelmillion Euro Bargeld.
Arafat Abou-Chaker: Der Clanchef als Autor
Ein Fall für die Justiz: Die Abou-Chakers und ihr Helfer Ein SPIEGEL-TV-Film von Thomas Heise
Hinzu kommen weitere Straftaten von Mitgliedern der Großfamilie, sie reichen von Drogenhandel über Betrug und Zuhälterei bis zu Gewaltdelikten. Die Experten des Berliner Landeskriminalamts rechnen einige der Clanmänner der Organisierten Kriminalität zu.
Arafat Abou-Chaker, Ex-Manager von Gangsta-Rapper Bushido, gilt als ein Chef der Familie. Er ist das Gesicht des Clans in der Presse und inzwischen selbst zur Berühmtheit geworden. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat ihn im Februar 2022 und erneut im Juni dieses Jahres wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung angeklagt.
Der mutmaßliche Gesamtschaden beläuft sich auf mehr als eine Million Euro. Die angehende Finanzbeamtin ist seine Nichte.
Der Verteidiger von Abou-Chaker wollte sich auf SPIEGEL-Anfrage zum Vorwurf der Steuerhinterziehung nicht äußern. Fragen zum Verhältnis seines Mandanten zur Nichte ließ der Anwalt unbeantwortet. Einer möglichen Arbeit beim Finanzamt würde die Frau aber sicherlich mit Verantwortungsbewusstsein nachgehen. Die Nichte war für den SPIEGEL nicht zu erreichen.
Auf Berliner Behördenfluren sorgt die Personalie für Unruhe. Man dürfe niemandem Straftaten von Familienangehörigen vorwerfen, sagen die einen. Vielmehr sei die Anwärterin vielleicht das beste Beispiel dafür, dass ein kriminelles Familienumfeld einen Menschen nicht automatisch auf die schiefe Bahn bringe. Egal, welchen Namen jemand trage: Alle verdienten eine Chance. Verdächtigungen täten der Frau unrecht, so sagt es ein mit dem Vorgang vertrauter Beamter.
Andere sorgen sich. Auch wenn niemand diskriminiert werden dürfe und die Frau ein sauberes Führungszeugnis habe, sei Wachsamkeit geboten, heißt es in Sicherheitskreisen. Die Gefahr der Unterwanderung von Behörden sei real, die Organisierte Kriminalität bundesweit auf dem Vormarsch. Ob Hafenarbeiter, Mitarbeiter von Ausländerbehörden oder Polizisten: Mafiöse Gruppen versuchten an allen möglichen Stellen, korrumpierbare Helfer zu rekrutieren, mit Druck oder mit Geld.
"Die Clans sind nicht zimperlich, wenn sie die Chance sehen, an wertvolle Informationen zu gelangen."
Sicherheitsbeamter
Etwa den Beamten der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit, gegen den die Staatsanwaltschaft im Sommer ermittelte. Laut "Tagesspiegel" soll der Mitarbeiter als Bote für Mitglieder eines arabischstämmigen Clans gearbeitet haben . Gegen Bezahlung lieferte er offenbar Drogen in den Knast. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung und eines Dienstschranks beschlagnahmte die Polizei 2500 Euro Bargeld.
Doch reicht im Fall der Finanzanwärterin die Verwandtschaft zu Clangrößen, um vom Schlimmsten auszugehen? Wird hier eine unbescholtene Bürgerin stigmatisiert, die in ihrem Privatleben möglicherweise gar nicht so viel Kontakt zu den berüchtigten Männern hat? Ist es nicht vielmehr ein Erfolg, wenn Frauen aus polizeibekannten Großfamilien im Staatsdienst landen?
Man dürfe die Augen vor Risiken nicht verschließen, heißt es aus Sicherheitskreisen. Etwa wenn die Frau unverschuldet in einen Loyalitätskonflikt komme: "Stellen Sie sich vor, der Vater, Onkel oder Cousin nutzt das enge Verwandtschaftsverhältnis aus, um die Frau unter Druck zu setzen", so ein Beamter. "Die Clans sind nicht zimperlich, wenn sie die Chance sehen, an wertvolle Informationen zu gelangen." Daraus könne sich für die Frau sogar eine bedrohliche Situation entwickeln.
Ihre Nachwuchskräfte filtern Sicherheitsbehörden daher mit besonderen Überprüfungen. So wertet die Polizei Berlin nicht nur ihre Datenbestände aus, wie die Behörde auf Anfrage mitteilt. Auch Auftritte im Netz oder Tätowierungen flössen in die Bewertung ein. "In begründeten Einzelfällen" würden zusätzlich Einschätzungen von Fachabteilungen etwa im Bereich der Organisierten Kriminalität eingeholt.
Hätte sich die Nichte von Arafat Abou-Chaker bei der Polizei beworben, wäre sie wohl abgelehnt worden, um sie vor möglichen Bedrohungen zu schützen, so ein Sicherheitsbeamter. In der Steuerverwaltung gelten laxere Regeln. Wer Finanzbeamtin werden will, muss neben den entsprechenden Schulabschlüssen und einem bestandenen Einstellungstest zwar auch seine "charakterliche Eignung" zeigen. Doch dafür reicht ein aktuelles Führungszeugnis.
Zum Fall der Anwärterin wollte sich der Berliner Finanzsenat auf SPIEGEL-Anfrage mit Verweis auf den Datenschutz nicht äußern. Man ergreife aber alle Maßnahmen, um "etwaigen Korruptionsfällen" in den Steuerbehörden "bestmöglich" vorzubeugen.