Weitergedacht - Die Wagenknecht-Kolumne 35 Jahre arbeiten und dann Hartz-IV-Rente?
Sie verschweigen uns die Wahrheit, Herr Altmaier!
Österreichs Rentner bekommen knapp 90 Prozent ihres letzten Nettoverdiensts, deutsche Rentner nur knapp 50 Prozent. Nach 35 Jahren Arbeit mit mittlerem Einkommen erwerben Deutsche zurzeit Rentenansprüche auf Hartz-IV-Niveau. Warum? Deutschland hat keine überalterte Gesellschaft, nein: In Deutschland verdienen Arbeiter immer weniger Geld. Dadurch fließt auch immer weniger Geld in die Rentenkasse, Herr Altmaier. Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht

Mittwoch, 16.06.2021, 12:42

Das war Peter Altmaier vermutlich gar nicht recht: Da zettelt sein Wissenschaftlicher Beirat doch keine drei Monate vor der Bundestagswahl eine Debatte über die Erhöhung des Rentenalters auf 68 Jahre an! Derart unpopuläre Pläne präsentiert man dem Bürger bekanntlich lieber erst nach dem Urnengang. Für den Wähler hat die Forderung aus Altmaiers Ministerium immerhin den Vorteil, dass er weiß, was ihn erwartet, wenn Angela Merkels Erben auch nach dem September 2021, wahrscheinlich mit tatkräftiger Unterstützung der Grünen, weitermachen können. Alternativlos, wie die vermeintlichen Experten es darstellen, ist die Rente ab 68 jedenfalls nicht.

Jeder weiß es: Die Corona-Zeit war für die Staatsfinanzen keine gute. Zwar hat die Regierung bei Unterstützungsleistungen für Einzelhändler, Gastwirte, Freiberufler und viele andere, die dringend Hilfe gebraucht hätten, eher geknausert, aber Mondpreise für Masken, Zahlungen für Intensivbetten, die nie geschaffen wurden, und üppige Staatshilfen für Konzerne wie Daimler, die zum Dank jetzt die Dividende erhöhen, wollen finanziert sein. Von den immensen Steuerausfällen durch die langen Lockdowns ganz zu schweigen. Irgendeiner muss am Ende die Rechnung bezahlen, und die Rentendebatte deutet schon mal darauf hin, dass das wohl nicht die gut 119 Milliardäre in Deutschland sein werden, deren Vermögen an und mit der Corona-Politik der Bundesregierung um weitere 100 Milliarden Euro angewachsen ist.

Klar, angeblich geht es bei der Rentendebatte gar nicht um Corona-Schulden. Angeblich geht es um eine unvermeidliche demographische Notwendigkeit, weil wir alle ja immer älter werden und deshalb bitteschön auch etwas länger arbeiten können, damit die Kosten der Rentenversicherung nicht aus dem Ruder laufen.

Riester-Rente war ein Flop - nicht aber für die Finanzwirtschaft

Richtig ist, dass der Steuerzahler mittlerweile 100 Milliarden Euro im Jahr an die Rentenkasse überweist, das sind 26 Prozent des Bundeshaushalts. Altmaiers Expertenrat hat nun eine Rechnung präsentiert, nach der die Rentenzuschüsse bis 2040 mehr als 44 Prozent und bis 2060 sogar mehr als die Hälfte des gesamten Bundesetats wegfressen würden, wenn nicht durch weitere Rentenkürzungen oder eine erneute Anhebung des Rentenalters Abhilfe geschaffen wird. Also sehr viel weniger Geld für Bildung und andere Zukunftsaufgaben, nur weil die Rentner ein viel zu großes Stück vom Kuchen für sich beanspruchen, so die unmissverständliche Botschaft.

Die Alten gegen die Jungen, das ist der Tenor der Rentendebatte, seit ein gewisser Walter Riester im Auftrag der damaligen rot-grünen Regierung die umlagefinanzierte Rente kleinzuhacken begann und parallel dazu die staatliche Subventionierung von Anlageprodukten einleitete, die zwar den künftigen Rentnern bestenfalls ein Almosen, der Finanzwirtschaft hingegen hochlukrative Provisionen bringen sollten. Dass die Riester-Rente als zweite Säule der Alterssicherung ein Flop war, bestreitet heute kaum noch jemand. Die Kürzungsfaktoren, die in die Berechnung der gesetzlichen Rente eingebaut wurden, haben aber trotzdem ihre Wirkung entfaltet. Im Ergebnis ist das Rentenniveau in Deutschland erheblich gesunken und die Altersarmut entsprechend gestiegen. Laut OECD liegen die staatlichen Renten hierzulande bei nur noch 50 Prozent des letzten Nettoeinkommens. Diese schlichte Zahl bedeutet: Wer vorher ein mittleres Einkommen hatte und über keine sonstigen Bezüge verfügt, lebt ab dem Renteneintritt in Armut.

Deutschland geht mit seinen Rentnern schon heute so schlecht um wie kaum ein anderes vergleichbares Land. Im Durchschnitt aller Industrieländer liegt das Rentenniveau immerhin bei 63 Prozent des Nettoeinkommens, in der EU noch deutlich höher. In Frankreich bekommt ein Rentner nach den OECD-Zahlen 75 Prozent, in Spanien und Italien 80 Prozent und in Österreich knapp 90 Prozent seines letzten Nettoverdiensts. Mit solchen Werten ist das Versprechen, dass die gesetzliche Rente den Lebensstandard sichern soll, einlösbar. In Deutschland wurde es in den Wind geschrieben.

Entsprechend groß ist die Angst, die den Normalbürger inzwischen packt, wenn er ans Alter denkt. Am größten ist sie übrigens in der Altersgruppe der 18 bis 29-Jährigen, von denen viele noch vor dem Einstieg ins Erwerbsleben stehen. Von ihnen fürchten aktuell fast 70 Prozent, im Alter keine ausreichende Rente zu erhalten. Im Durchschnitt der Bevölkerung sind es 60 Prozent. Das zeigt übrigens auch, was von dem angeblichen Interessengegensatz zwischen Jung und Alt zu halten ist. Auch die heute Jungen werden irgendwann alt und sie wissen das. Eine solide gesetzliche Rente ist daher kein Geschenk an die Senioren, sondern eine wertvolle Leistung, die Lebenssicherheit schafft und gerade für die Jüngeren Zukunftsängste verringert.

Nach 35 Jahren Arbeit Rente auf Hartz-IV-Niveau

Wir sollten uns daher nicht daran gewöhnen, in unseren Städten bürgerlich gekleidete Ältere zu sehen, die verstohlen in Mülleimern nach Verwertbarem, insbesondere nach Flaschen suchen. Noch in den achtziger Jahren wäre ein solcher Umgang mit Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben, kaum vorstellbar gewesen. Insgesamt 2,4 Millionen Rentner mit Beitragszeiten von 40 Jahren und mehr bekommen heute weniger als 1000 Euro Rente. Sicher, manche von ihnen haben zusätzliche Einkommen aus Betriebsrenten oder privater Vorsorge. Viele aber haben das nicht. Nach 35 Jahren Arbeit mit mittlerem Einkommen erwirbt man aktuell Rentenansprüche auf Hartz-IV-Niveau. Und jetzt soll zusätzlich noch die Rente ab 68 kommen? Oder vielleicht gar die Rente ab 70, wie sie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft auch schon gefordert hat?

Wir werden schließlich immer älter, heißt es, ist es denn so schlimm, wenn wir dann auch ein bisschen länger arbeiten? Die Falle dieses scheinbar plausiblen Arguments steckt in dem imaginären "wir". Im Durchschnitt werden wir zwar tatsächlich immer älter, aber die Lebenserwartung steigt keineswegs gleichmäßig in allen sozialen Schichten. Jeder fünfte Deutsche erreicht das 69. Lebensjahr nicht. Früher sterben vor allem Menschen aus weniger begüterten Verhältnissen, bei denen die Lebenserwartung seit Jahren stagniert. Im Schnitt lebt ein ärmerer Mann heute 11 Jahre kürzer als ein wohlhabender, bei den Frauen beträgt die Differenz acht Lebensjahre. Rente mit 68 hieße daher für Viele, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen: Arbeiten bis zum Umfallen.

Zweitens gibt es eben nicht nur Büroberufe, in denen man zur Not vom Schreibtisch aus noch mit Siebzig werkeln kann. Schon viele Sechzigjährige dürften Probleme haben, den körperlichen Anforderungen zu genügen, die sie etwa auf dem Bau, in der Gastronomie oder auch in vielen Pflegeberufen bewältigen müssen. Ganz abgesehen davon, dass Unternehmen über Sechzigjährige auch allenfalls dann einstellen, wenn sie gar keine anderen Bewerber haben. Es gibt folgerichtig nur wenige Mittsechziger, die noch einer regulären Vollzeitarbeit nachgehen. Eine weitere Erhöhung des Rentenalters würde daher vor allem eins bedeuten: eine zusätzliche Rentenkürzung für die Vielen, die mit Ende Fünfzig, Anfang Sechzig ihren Job verlieren oder in ihm nicht mehr arbeiten können und gar keine Chance haben, etwas Neues zu finden.

Produktivität steigt: weniger Erwerbstätige können mehr Rentnern einen guten Lebensabend ermöglichen

Auch wenn seit Jahren Gegenteiliges behauptet wird: Die Rentenversicherung hat kein Demographieproblem. Dass es mehr Rentner geben wird, vor allem wenn die sogenannten Babyboomer in Rente gehen, und ihnen weniger Erwerbstätige gegenüberstehen, ist zwar richtig. Aber diese Relation verschiebt sich schon seit gut fünfzig Jahren. Für die gesetzliche Umlagerente war das lange Zeit kein Problem. Der Anstieg der Älteren wurde nämlich ausgeglichen durch den Anstieg der Produktivität, der sich in einem entsprechenden Wachstum der Löhne niederschlug. Steigende Produktivität heißt: Es braucht weniger Arbeitskräfte, um den gleichen Kuchen zu backen. Wenn heute darüber gesprochen wird, dass die Digitalisierung bestimmte Berufe überflüssig macht, geht es genau darum: Es braucht in Zukunft weniger Arbeit, um einen bestimmten Level an Wohlstand zu erzeugen. Also können weniger Erwerbstätige mehr Rentnern einen guten Lebensabend ermöglichen, ohne sich selbst einschränken zu müssen.

Theoretisch jedenfalls. Praktisch ist das Problem, dass die Rentenbeiträge auf die Löhne berechnet werden, die Löhne aber seit Jahren nicht mehr mit der Produktivität wachsen. Speziell in Deutschland gibt es einen großen Niedriglohnsektor, der vor zwanzig Jahren durch ein Bündel politischer Maßnahmen geschaffen wurde. Für Postzusteller, Reinigungskräfte, Klempner oder auch Verkäuferinnen sind die Löhne seither spürbar gesunken. Aktuell arbeitet jeder fünfte Beschäftigte in unserem reichen Land für unter 2200 Euro brutto. Hier, nicht in der Demographie, liegt eine der Hauptursachen für die Finanzierungsnöte der Rentenversicherung. Denn Niedriglöhner können mit ihren Beiträgen selbstverständlich nicht die Renten einer Generation finanzieren, in deren Erwerbsleben es vergleichbar jämmerlich bezahlte Arbeitsverhältnisse kaum gab und deren Rentenansprüche schon deshalb höher ausfallen. Dieses Missverhältnis wird allerdings nicht durch eine Anhebung des Rentenalters zu beheben sein.

Naheliegender wäre wohl eine Anhebung der Löhne, vor allem des äußerst mageren Mindestlohns, sowie die Einführung von Gesetzen gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, wie es sie bei weitem nicht nur in der Fleischindustrie gibt. Letzteres Beispiel zeigt übrigens auch, warum noch mehr Zuwanderung das Problem unserer Renten nicht lösen wird: soweit Migration den Druck auf die Löhne verstärkt, vergrößern sich die genannten Probleme.

In Österreich zahlen auch Selbständige und Beamte in die Rentenkasse ein

Volkswirtschaftlich gibt es übrigens auch keine Kostenexplosion in der Rentenversicherung. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gibt Deutschland heute zehn Prozent für seine Seniorinnen und Senioren aus. Das ist exakt der Wert, der schon im Jahr 2003 für die gesetzliche Rente gezahlt wurde. Damals freilich für deutlich weniger Rentner, die dadurch bessere Renten hatten, und bei einem Steuerzuschuss, der halb so hoch war wie der heutige.

Dass uns unsere Senioren gerade mal zehn Prozent unserer Wirtschaftsleistung wert sind, ist übrigens ein im internationalen Vergleich blamabler Wert. Der EU-Durchschnitt liegt bei zwölf Prozent. Österreich gibt für seine ältere Generation 13 Prozent aus und finanziert damit eine Rente, die die bei uns gezahlte im Schnitt um 800 Euro pro Monat übersteigt. Selbst bei den Mini-Renten stehen die Österreicher besser da: Nach 30 Beitragsjahren gibt es eine Grundrente von 1.114 Euro. In Deutschland hat man sich nach ewigem politischem Gezerre für eine Grundrente von 880 Euro entschieden, deren bürokratischer Erhebungsaufwand allerdings so groß ist, dass sie bisher noch niemand erhalten hat. Nebenbei bemerkt: Das Rentenalter liegt in Österreich für Männer bei 65 und für Frauen bei 60 Jahren, wobei es für ab 1968 geborene Frauen schrittweise auf 65 steigt.

Dennoch fließt in Österreich keineswegs der halbe Bundesetat oder mehr in die Rentenversicherung. Die Beitragssätze sind mit 22,8 Prozent etwas höher als in Deutschland, wobei Arbeitsgeber 12,55 und Beschäftigte 10,25 Prozent zahlen. Für einen Durchschnittsverdiener bedeutet das im Vergleich zu Deutschland eine Mehrbelastung von gut 30 Euro pro Monat, was die meisten vermutlich gern aufbringen würden, wenn sie damit zusätzliche Rentenansprüche von 800 Euro monatlich erwerben. Zumal sie dann dem Druck enthoben wären, bei Nullzinsen und anziehender Inflation nach privaten Anlagemöglichkeiten zu suchen, in denen das Geld nicht wegschmilzt wie Schnee in der Sonne.

Das Geheimnis des österreichischen Modells liegt in seiner Finanzierungsbasis. In Österreich sind nahezu sämtliche Erwerbstätige in die Renten einbezogen - auch Selbständige und Beamte. Selbst Politiker zahlen ganz normal in die Rente ein. Und da die so erworbenen Rentenansprüche auf einem Niveau liegen, das durch private Finanzanlagen kaum zu toppen ist, ist das für viele Selbständige mit geringeren oder mittleren Einkommen auch durchaus attraktiv.

Österreich ist ein Beispiel für ein funktionierendes Rentensystem in einem Land, dessen Demographie sich nicht allzu sehr von der unsrigen unterscheidet. Statt mit Horrormeldungen noch mehr Zukunftsängste zu schüren, sollten Altmaiers Wissenschaftler daher lieber mal in unser Nachbarland fahren, dort die Gegebenheiten studieren und mit entsprechenden Vorschlägen im Gepäck zurückkommen. Von Beirats-Mitgliedern wie Prof. Börsch-Supan, der seit Jahren auf der Payroll der Deutschen Versicherungswirtschaft steht, wäre das allerdings wohl zu viel verlangt.


Quelle: focus.de vom 16.06.2021