Ein Essay von Christoph Reuter
20.03.2023, 18.07 Uhr
In den Nachtstunden des 20. März begann vor 20 Jahren der Angriff der USA auf den Irak, schlugen die ersten Marschflugkörper in Bagdad ein. Die Regierung unter George W. Bush setzte an, die mörderische Diktatur Saddam Husseins zu stürzen, was auch rasch gelingen würde. Nur die Glaubwürdigkeit Amerikas stürzte mit, rasch und weit länger anhaltend als der Feldzug.
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In Deutschland wandte sich damals eine große Mehrheit der Menschen gegen eine deutsche Beteiligung an diesem Krieg. Außenminister Joschka Fischer hielt auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2003 dem US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sein legendäres "Excuse me, I am not convinced" entgegen: Er sei nicht überzeugt, weder von den Argumenten, noch von dem unablässigen Druck der Bush-Regierung auf ihre Verbündeten, sich dem Kriegszug anzuschließen. Deutschland schickte keine Truppen. Das Misstrauen gegenüber Washingtons Behauptungen war absolut berechtigt, wie sich bald herausstellen würde.
Ich kannte den Irak seit 1990, hatte bis kurz vor der Invasion immer wieder über Monate dort recherchiert. Ich schrieb damals für den "Stern", saß Mitte November 2002 bei Sabine Christiansen, deren sonntägliche Talkshow damals zum Zentralinventar politischer Abendunterhaltung gehörte. Zwischen SPD-Innenminister Otto Schily und CDU-Fraktionsvize Wolfgang Schäuble war es schwierig, überhaupt zu Wort zu kommen und zu erläutern, dass die amerikanische Geschichte von der Saddam-Qaida-Allianz kaum zutreffen dürfte.
Das Fußvolk von al-Qaida hinterließ Spuren, war recherchierbar. Nur Iraker waren kaum aufgetaucht bislang, das einzige Terrorcamp auf irakischem Boden lag ausgerechnet an der iranischen Grenze, außerhalb der Kontrolle von Saddam Husseins Geheimdiensten.
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Jenseits der Frage, ob die Vorwürfe aus Washington stimmten, verlief die Debatte in Deutschland weitgehend abseits jenes Landes, um das es doch ging: der Irak.
Befürworter wie Gegner der anrollenden US-Invasion argumentierten mit deutscher Geschichte, deutschen Bezugspunkten. Unsere pazifistische Genese des vergangenen halben Jahrhunderts verbiete eine Teilnahme, hieß es bei der Mehrheit der Gegner. Saddam sei wie Hitler, bemühten
Doch schaut man heute zurück auf die vergangenen 20 Jahre, waren der amerikanische Einmarsch und Sturz Saddams der Auslöser einer Kettenreaktion, die den Irak in zwei furchtbare Bürgerkriege stürzte und zu einem immer noch weitgehend dysfunktionalen Staat werden ließ: beherrscht weniger von Premier und Parlament als von einer Schattenkamarilla aus Milizenführern, politischen Strippenziehern und einem hochkorrupten Verwaltungsapparat, der alle Veränderungsversuche ins Leere laufen lässt. Eine Staatsführung, die einen der potenziell reichsten Öl- und Gasexporteure der Welt in weiten Teilen aussehen lässt wie ein Drittweltland.
Kam das alles überraschend, wie später reuige Politiker und Analysten schrieben? Mitnichten. Es interessierte nur nicht.
Seit Anfang Februar 2003 war ich für den "Stern" im Nordirak, der seit den Neunzigerjahren nicht mehr unter Saddam Husseins Macht stand. Wenige Tage nach Beginn der Invasion schickte ich einen Text nach Hamburg, der am 27. März 2003 erschien: "Der bittere Sieg". Eine Aussicht auf das Kommende nach dem absehbaren Sieg der einrollenden US-Truppen: Bagdad werde nach zwei Wochen erobert werden (es wurden drei), "dieser Krieg wird rascher zu Ende sein, als die meisten für möglich halten, die sich an Bilder von Jubelirakern gewöhnt haben. ( ) Alles Trug, denn Saddams Reich ist innerlich seit Langem leer, wird nur noch gehalten von der äußeren Hülle der Furcht, die jeder vor dem anderen hat. ( ) Wenn also der Krieg gewonnen ist, wird etwas Gefährliches passieren: Die Menschen werden jubelnd an den Straßen stehen. ( ) Das Gefährliche an diesem Jubel ist, dass George W. Bush mit seinen Strategen der neuen Wunsch-Weltordnung glauben wird, gesiegt zu haben. Dabei wird der Jubel der Beginn seiner Niederlage sein."
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Es lässt einen eitel aussehen, 20 Jahre später noch einmal festzustellen, damals recht gehabt zu haben. Ich zitiere es trotzdem. Denn schon vor dem Krieg hätte den politischen Entscheidern, allen voran in Washington, klar sein können, was aus dem Irak werden würde, sobald dessen Diktatur gestürzt war.
Von außen herbeigebombte Freiheit "in einem Land, dessen Menschen seit Jahrzehnten nicht anderes kennengelernt haben als Gewalt, Folter, Mord und Krieg", werde in einem anarchischen Albtraum münden anstatt in einem funktionierenden Staat:
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Ziemlich genau so kam es dann. Die von der Macht vertriebenen Sunniten, die alte Elite des Landes, begannen eine Terrorkampagne gegen die Amerikaner, ebenso gegen die Uno, das Rote Kreuz und die schiitische Mehrheit, aus der rasch ebenfalls bewaffnete Milizen erwuchsen. Der erste Bürgerkrieg wütete jahrelang, die Amerikaner zogen 2011 ab, der nächste Bürgerkrieg entbrannte 2014 mit dem jähen Eroberungszug des "Islamischen Staates" im Nord- und Westirak.
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Heute sind die Kriege vorbei, aber der Terror geht weiter. Allein im Februar 2023 starben mehr als 50 Menschen im Irak durch Anschläge. Die Macht der schiitischen Milizen über den Staat und die Erdöleinnahmen existiert fort, ebenso die allgegenwärtige Angst vor ihren Killerkommandos.
Nach dem raschen Sieg über Saddam im April 2003 war in Washington offenbar das dringende Interesse an der Suche nach den Belegen für die Kriegsgründe jäh abgekühlt. Als wir in den Wochen nach Bagdads Fall dort recherchierten, kamen wir der CIA um zwei Wochen zuvor, die verlassenen Räume der drei Tarnfirmen für den Schmuggelimport von Militärgütern zu finden.
Getarnt als kleine Handelsunternehmen hatten sie Waffen, Munition, Panzer und das technische Equipment zur Herstellung eigener Militärtechnik im Wert mehrerer Hundertmillionen US-Dollar aus Dutzenden von Staaten, darunter Deutschland und die USA, zumeist über Syrien in den Irak geschmuggelt.
Später, als das Ausmaß der Desinformation nach und nach bekannt wurde, sich Saddams Massenvernichtungswaffen ebenso wie die Nähe zu al-Qaida als Mär herausstellten, war die Glaubwürdigkeit der Bush-Regierung und ihrer Verbündeten ruiniert. Die Bilder gefolterter Iraker aus dem Gefängnis Abu Ghraib präsentierten Washingtons Doppelmoral, außerdem scheiterte die Befriedung des Irak. Hunderttausende starben über Jahre im innerirakischen Machtkampf, der auch nach dem Abzug der US-Truppen 2011 weiterging.
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"Egal, wie viele Milliarden und Mühen eine Supermacht investiert", schrieb der Kolumnist Michael Hirsh unlängst in "Foreign Policy" über das Scheitern der USA in Vietnam, im Irak, in Afghanistan, "nichts wird das Ergebnis auf dem Boden der Realität verändern ohne eine legitime Regierung an der Macht."
Aber wann ist eine Regierung legitim? Genügt es, wenn sie aus fairen Wahlen hervorgegangen ist? Wie legitim ist sie, wenn die Mächtigen in den Streitkräften, der Verwaltung, den Parteien weiterhin vor allem sich selbst bereichern? Wenn, wie im Irak, Todesschwadronen seit 2019 Jagd auf Bürgerrechtler machen, die einen rechenschaftspflichtigen Staat fordern?
Der Irak scheitert bis heute an sich selbst, hat weder Recht noch Gerechtigkeit geschaffen. Und er steht damit nicht allein: Afghanistan ist nach knapp 20 Jahren amerikanischer Besatzung widerstandslos zurück an die Taliban gefallen, weil weder die Regierung noch die Bevölkerung eine funktionsfähige Alternative zur Diktatur der Fanatiker aufgebaut haben.
Dass ein Staat auch ganz ohne US-Einmarsch, ohne Krieg sich selbst zugrunde richten kann, führt der Libanon seit Herbst 2019 vor: Die verfeindeten Fraktionen der Bevölkerung halten sich gegenseitig in Schach, zementieren den Status quo, den die Elite seit Jahrzehnten nutzt, das eigentlich reiche Land auszuplündern und in den Ruin zu treiben.
Ehemaliger Bush-Berater Kaplan über den Irakkrieg: "Ein Jahr der Anarchie kann schlimmer sein als hundert Jahre Tyrannei"
Von Bernhard Zand
Mit dem Völkerrecht gegen Putin:
Die Doppelmoral des Westens
Der SPIEGEL-Leitartikel von Ralf Neukirch
Machtkampf in Bagdad: Steht der Irak erneut vor einem Bürgerkrieg?
Von Christoph Reuter
Die übersehene Kernfrage jeder Veränderung lautet: Gibt es den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft, der eine funktionierende Regierung erst ermöglicht? Gibt es Respekt der Bevölkerung für einen Staat und dessen Regeln?
Oder ist das Territorium innerhalb seiner Grenzen nur die Arena endloser Kämpfe um Macht und Pfründe? Ist die Mitte einfach leer?
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Washingtons Lügen von damals wirken bis heute nach. "Die Doppelmoral von 2003 schlägt 2023 wie ein Bumerang zurück", sagt der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München über die Zurückhaltung vieler Staaten des Globalen Südens in Südamerika, Asien, Afrika, Russlands Invasion in der Ukraine eindeutig zu verurteilen.
Aber den amerikanischen Völkerrechtsbruch von damals allein für das irakische Elend von heute verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Die Invasion in Afghanistan war völkerrechtlich legitimiert und ist ebenfalls nach zwei Jahrzehnten im Fiasko eines fluchtartigen Abzugs der letztverbliebenen ausländischen Truppen und dem jähen Untergang der Regierung gescheitert.
Was also kann die Lehre sein aus dem Angriff vom 20. März 2003 und seinen Folgen? Jenseits vom Respekt für das Völkerrecht ebenso wie für die Menschenrechte?
Weniger Ignoranz, ein tieferes Verständnis der Folgen wären essenziell. Mehr Respekt für die fundamentalen Unterschiede zwischen Gesellschaften und Staaten. Einer angegriffenen, zuvor friedlichen Demokratie wie der Ukraine beizustehen sollte nicht kompromittiert werden von den Lügen und der Arroganz der Vergangenheit.