Von
Michael Hanfeld
Verantwortlicher Redakteur für das Ressort "Medien".
25.08.2025, 13:49 Lesezeit: 4 Min.
Angela Merkel hat das Wort. Sie hat das erste und das letzte Wort in dem Film "Merkels Erbe - 10 Jahre ,Wir schaffen das!'", mit dem die ARD auf die Tage Ende August 2015 zurückblickt, in denen ein Flüchtlingszuzug einsetzte, der bis heute andauert.
Er hat die Gesellschaft grundlegend verändert, wie der Journalist Robin Alexander sagt. Doch das, so lautet der Tenor der Doku von Birgit Wärnke, die als "Reportage mit Ingo Zamperoni" ausgeflaggt ist - was bedeutet, dass der "Tagesthemen"-Moderator reportermäßig durchs Land fährt und mit Leuten redet -, ist alles halb so schlimm. Merkels "Wir schaffen das!" - es wird hier dreifach unterstrichen.
Zamperoni besucht die bayerische Grenzpolizei, spricht mit Beamten, die schon 2015 im Einsatz waren. Sie beschreiben den Kontrollverlust, als sie keine Schleuser auf der Autobahn mehr gestoppt haben, Flüchtlinge über die Standstreifen liefen.
Was hat sich durch die neue Bundesregierung verändert, will Zamperoni wissen. Mehr Grenzkontrollen und die "Stärkung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung" habe wieder einen hohen Stellenwert. Der Journalist widerspricht: "Aber eigentlich war die Idee von einem vereinten Europa ja, dass die Grenzen offen sind." Der Polizist trocken: "Hat offensichtlich nicht funktioniert."
Dann besucht Zamperoni den Schauplatz der Kölner Silvesternacht, wo zum Jahreswechsel 2015 Hunderte Frauen sexuell belästigt und beraubt wurden - vor allem von jungen Männern aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum. Doch das kommt sehr kurz.
Über die Straftaten spricht Zamperoni als "Vorfälle" und fragt aus dem Off: "Wie konnte die Situation damals derart eskalieren?" Gina Wollinger, Kriminologin der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, nennt als Grund u.a. die "Treppensituation" hoch zum Dom.
Zamperoni schlussfolgert: "Ja, das kann ich mir vorstellen, dass das hier natürlich sehr eng war, dass sich das alles so hochgeschaukelt hat." Die "FAZ" kritisiert: "Kein Verweis auf die exorbitante Überrepräsentanz junger Zuwanderer bei Gewalt- und Sexualdelikten."
Dass Zugewanderte in der BKA-Statistik bei Gewaltdelikten viel stärker als Täter auftauchen, als sie in der Bevölkerung repräsentiert sind, nennt Zamperoni lediglich eine "Auffälligkeit". Kriminologin Wollinger sagt dazu: "Ja, da sind mehr Straftaten. Aber insgesamt ist es trotzdem nur ein ganz kleiner Teil von geflüchteten Menschen."
Nicht der Hauch eines Zweifels weht die ehemalige Bundeskanzlerin an, als Zamperoni sie nach der bedingungslosen Grenzöffnung und deren Folgen fragt. "Was hätten wir denn tun sollen?", fragt sie im Alternativloston, der ihre Kanzlerschaft prägte und den der freundliche Zamperoni nicht hinterfragt. Hätte man die Menschen "wegdrängen" sollen? "Wir schaffen das", sagt Merkel. "Wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden." Und: "Das ist ein Prozess. Was noch zu tun ist, muss weiter getan werden."
Muss, muss, muss, es, wir: Mit derlei Floskeln kommt Merkel bei Zamperoni und Wärnke davon. Die AfD? Ist in der Eurokrise entstanden. Die Union? "Ich sehe, dass es andere Meinungen gibt", sagt die Altkanzlerin, man müsse aber europäisch denken und dürfe seine Werte nicht verraten, das sei ihr beim "Angang" des Themas ganz wichtig. Man müsse es menschenwürdig schaffen und "die Kraft aufbringen, das Richtige zu tun".
Damit ist der Rahmen der Stationenreise, auf die sich Zamperoni begibt, rhetorisch gesetzt. Er fährt hierhin und dorthin, trifft Menschen und sammelt scheinbar disparate Einschätzungen, die aber doch nur der Bestätigung des Merkel'schen Mantras dienen.
Die bayerischen Grenzpolizisten, die 2015 mitansehen mussten, wie Schleuser Flüchtlinge mitten auf der Autobahn absetzten, fanden das zwar frustrierend, aber mehr auch nicht.
Der Bürgermeister von Schwäbisch Gmünd, Richard Arnold (CDU), dessen Stadt ihr Aufnahmesoll für Flüchtlinge übererfüllt hat, verliert zwar an Zuversicht, aber "der Weg" sei doch "das Ziel", sagt eine ältere Dame bei einer Gemeinschaftsaktion.
Der aus Syrien geflohene Mohammed Alasaad arbeitet als Krankenpfleger in Cottbus, hat schnell Deutsch gelernt, eine Ausbildung gemacht, bildet inzwischen andere aus, erscheint als das perfekte Beispiel für gelungene Integration - für die er auch alles getan hat -, spürt inzwischen aber, dass es mit der Willkommenskultur vorbei ist. 64 Prozent aller seit 2015 Zugewanderten seien in Lohn und Brot, hören wir an dieser Stelle.
Der Organisator des "Festivals der Vielfalt" in Solingen, auf dem ein aus Syrien stammender Attentäter vor einem Jahr drei Menschen erstach und acht schwer verletzte, ist trotz allem unverdrossen. Die Leiterin eines Flüchtlingsheims in Potsdam, auf das ein mutmaßlich rechtsextremistisch motivierter Anschlag verübt wurde, ist - berechtigterweise - besorgt.
Foto: AP
Die Soziologin Gina Wollinger, die an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW lehrt, äußert sich zu den massenhaften sexuellen Übergriffen junger Zuwanderer auf Frauen auf der Domplatte in Köln in der Silvesternacht 2015 und kommt zu dem Schluss, dass das "Merkmal Migration" für Kriminalität gar keine Bedeutung habe.
Das versucht der Film mit Statistiken zu belegen, in denen der Anteil ausländischer Tatverdächtiger bei Kapitalverbrechen wie Mord, Vergewaltigung und Raub heruntergerechnet wird, zudem gibt Zamperoni den Hinweis, Menschen mit Migrationshintergrund würden tendenziell häufiger angezeigt als solche ohne. Dass schwere Straftaten nicht angezeigt werden müssen, sondern die Staatsanwaltschaft hier von selbst ermitteln muss, sagt er nicht.
Knapp 45 Minuten dauert der "Wir schaffen das!"-Film. Er ist oberflächlich, fadenscheinig in der vermeintlichen Beweisführung und dringt zum Kern des Themas, um das es ihm angeblich zu tun ist, nicht vor: Wie sich unser Land verändert. Dass die Kräfte der demokratischen Mitte erlahmen, wie Robin Alexander sagt. Wie man den Aufstieg der AfD nicht nur bestaunen, sondern stoppen könnte. Was für erfolgreiche Integration wirklich vonnöten ist und wie sich Zuwanderung gestalten lässt, ohne dass die Gesellschaft zerbricht.
Da hilft Merkels Mantra nicht weiter und Zamperonis salbungsvolles Schlusswort auch nicht. "Migration", sagt er, "ist eine Aufgabe, die gekommen ist, um zu bleiben." Es sei "eine Herausforderung", "die wir annehmen müssen, ob wir das wollen oder nicht".