Migration 10 Jahre "Wir schaffen das" - Vom lauten Engagement zum großen Schweigen: Die Verstummten


Anne-Kattrin Palmer


Sophie-Marie Schulz


Elmar Schütze

30.08.2025, 15:53 Uhr

Vor zehn Jahren öffnete die Bundesregierung die Grenzen für illegale Migration. Diese Entscheidung fand damals viele prominente Fürsprecher. Sehen die Menschen das noch genau so?

Zehn Jahre Angela Merkels "Wir schaffen das" - die Liste ihrer Unterstützer war lang und illuster. Claudia Roth etwa war begeistert und betonte, dass sich die Flüchtlinge "in Not und nicht wir in Notwehr" befänden. Jetzt, zehn Jahre später, fragte die Berliner Zeitung Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur an, die sich damals positiv zur Migrationspolitik der Merkel-Regierung geäußert hatten.

Nur ganz wenige wollten sich heute zu ihren damaligen Positionen äußern. War der Enthusiasmus am Ende vor allem Zeitgeist, so wie es jetzt Zeitgeist zu sein scheint, die illegale Migration als Wurzel allen Übels zu brandmarken? Diese zwanzig Personen des öffentlichen Lebens sind derzeit weder enthusiastisch noch kritisch. Sie schweigen.

Claudia Roth (Grüne, damals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages)

Claudia Roth
© Hannes P Albert/dpa

Im Dezember 2015 sagte Roth in einer Bundestagsrede: "Die Flüchtlinge bedrohen uns nicht; sie sind doch in Not und nicht wir in Notwehr."

Ihre damaligen Äußerungen wollte Claudia Roth nicht kommentieren. Eine Anfrage der Berliner Zeitung wurde nicht beantwortet.

Dieter Zetsche (damals Vorstandsvorsitzender der Daimler AG)

Dieter Zetsche

2015 sagte er unter anderem, dass die Aufnahme von mehr als 800.000 Menschen eine "Chance für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland" darstelle und ein neues "Wirtschaftswunder auslösen" könne.

Sieht er sich heute bestätigt? Eine aktuelle Anfrage der Berliner Zeitung blieb unbeantwortet.

Dunja Hayali (ZDF-Moderatorin)

Dunja Hayali

Schon früh setzte sie sich gegen Fremdenfeindlichkeit ein und bekannte sich konsequent zu Menschlichkeit und Offenheit. Unvergessen ihr Satz: "Asylschmarotzer? Es gibt KEINE Asylschmarotzer. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht."

Und heute? Auf eine aktuelle Anfrage reagierte sie nicht. Die ZDF-Pressestelle erklärte: "Leider ist das zeitlich nicht möglich. Dunja Hayali ist derzeit im Urlaub."

Jan Böhmermann (Satiriker)

Jan Böhmermann

2015 nahm er in seinem Neo Magazin Royale den staatlichen Umgang mit der Flüchtlingskrise ins Visier - ironisch, kritisch und provokant. Dabei stellte er Rückkehrprämien ebenso infrage wie die viel beschworene "Willkommenskultur" und machte rechte Hetze satirisch zum Thema.

Ein aktuelles Statement gab es nicht: Böhmermann befindet sich laut Management in der Sommerpause.

Heiko Maas (SPD, damals Bundesjustizminister)

Heiko Maas
© picture alliance/dpa

Er verteidigte mehrfach öffentlich Merkels Kurs. 2016 sagte er: "Aber es bringt niemandem etwas, wenn wir uns gegenseitig kriminalisieren oder den Untergang des Abendlandes an die Wand malen."

Seine damaligen Äußerungen wollte Heiko Maas nicht kommentieren. Eine Anfrage der Berliner Zeitung blieb unbeantwortet.

Veronica Ferres (Schauspielerin)

Veronica Ferres

2015 nahm sie eine syrische Familie in ihrem Haus in Hannover auf. "Da die Kinderzimmer seit längerem ungenutzt leer standen, haben wir uns entschieden, Kriegsflüchtlingen Unterkunft zu gewähren", erklärte sie damals.

Für ein aktuelles Statement sei "der Kalender produktionsbedingt mehr als voll", ließ ihr Management mitteilen.

Herbert Grönemeyer (Musiker)

Herbert Grönemeyer

Setzte sich wiederholt mit Liedern und öffentlichen Statements für eine humane Flüchtlingspolitik ein. Er sagte unter anderem: "Es ist erschreckend, was sich im Moment auf den Straßen und in den Köpfen abspielt. Es ist eine klamme, sehr hysterische Atmosphäre."

Auf die Anfrage der Berliner Zeitung reagierte er nicht.

Katrin Göring-Eckardt (Grüne, damals Fraktionsvorsitzende)

Katrin Göring-Eckardt
© Michael Kappeler/dpa

2015 sagte sie unter anderem: "Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf."

Ein aktuelles Statement gab sie nicht ab. Eine Anfrage der Berliner Zeitung wurde nicht beantwortet.

Reinhard Kardinal Marx (Katholik, damals Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz)

Reinhard Kardinal Marx

Unterstützte die Aufnahme Geflüchteter und betonte die christliche Verantwortung für Menschen in Not. 2015 sagte Marx unter anderem: "In einer Situation, in der das Leben bedroht ist, dürfen wir niemanden zurückschicken. Sichere Grenzen, das heißt scheinbar für einige: Wir sind vor den Flüchtlingen sicher. Aber sichere Grenze heißt auch: Die Flüchtlinge sind bei uns sicher vor Krieg, Verfolgung und existenzieller Bedrohung."

Der Kardinal dankte der Berliner Zeitung für die Anfrage, "die ich allerdings absagen muss". Eine Begründung dafür blieb er schuldig.

Udo Lindenberg (Musiker)

Udo Lindenberg

Bereits 2015 positionierte er sich zur Flüchtlingskrise mit den Worten, man brauche "keine ewig Gestrigen mit dumpfen Parolen". Im Rahmen der Unicef-Initiative "Voices for Unicef" veröffentlichte er das Lied "What Is War For".

Eine Anfrage der Berliner Zeitung wurde nicht beantwortet.

Christian Lindner (damals FDP-Chef)

Christian Lindner
© Michael Kappeler/dpa

Im September 2015 verteidigte er Merkels Entscheidung und die Aufnahme von Flüchtlingen. Im November folgte ein Kurswechsel. In einem Interview mit der Welt sagte er: "Frau Merkel hat mit ihrem Zickzackkurs in den letzten Wochen Chaos gestiftet. Deshalb erleben wir einen chaotischen Massenzustrom, über den die Regierung die Kontrolle verloren hat."

Ein aktuelles Statement gab er der Berliner Zeitung nicht.

Sarah Connor (Sängerin)

Sarah Connor

Nahm 2015 eine sechsköpfige syrische Flüchtlingsfamilie bei sich zu Hause auf. Sie beschrieb die Erfahrung als "wunderbar und wichtig, um vieles, was heute passiert, zu verstehen", räumte aber auch ein, dass sie "anstrengend" war.

Wie sie heute darüber denkt, wollte die Sängerin nicht mitteilen. Eine Anfrage der Berliner Zeitung wurde nicht beantwortet.

Philipp Lahm (Ex-Fußballer)

Philipp Lahm

Sprach sich wiederholt für die Integration von Flüchtlingen aus und betonte, dass eine offene Gesellschaft von Vielfalt profitiere. Seine Philipp-Lahm-Stiftung ist bis heute vielfältig auf dem Gebiet aktiv.

Auf eine Anfrage der Berliner Zeitung reagiert Lahm nicht.

Thomas de Maizière (CDU, damaliger Innenminister)

Thomas de Maizière
© picture alliance/dpa

Er verteidigte Merkels Kurs, warnte aber schon 2015 vor Problemen. 2020 sagte er: "Stellen Sie sich einmal vor, die Kanzlerin hätte gesagt: ‚Wir schaffen das nicht!' Vielleicht hätte sie sagen müssen: ‚Es gibt große Probleme, aber wir schaffen es trotzdem.'"

De Maizière teilte auf Anfrage der Berliner Zeitung mit, dass er sich derzeit mit anderen Themen befasse und sich nicht äußern wolle.

Martin Schulz (SPD, damals Präsident des EU-Parlaments)

Martin Schulz
© IMAGO/Bernd Elmenthaler

2015 sagte er: "Was die Flüchtlinge zu uns bringen, ist wertvoller als Gold. Es ist der unbeirrbare Glaube an den Traum von Europa. Ein Traum, der uns irgendwann verloren gegangen ist."

Schulz reagierte nicht auf die Anfrage der Berliner Zeitung.

Klaas Heufer-Umlauf (Moderator)

Klaas Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt

Gemeinsam mit Joko Winterscheidt setzte er in TV und Social Media Zeichen gegen Hass und Rassismus. 2015 initiierte Heufer-Umlauf unter dem Titel "Dialog mit dem Volk" ein Hilfsprojekt zur Flüchtlingskrise, das Bürgern und Politikern einen direkten Austausch auf Augenhöhe ermöglichte.

Für ein aktuelles Statement standen beide wegen voller Terminkalender nicht zur Verfügung.

Friedrich Merz (CDU, damals Vorsitzender der Atlantik-Brücke)

Friedrich Merz
© IMAGO/ESDES.Pictures, Bernd Elmenthaler

Er kritisierte Merkels Entscheidung erstmals Ende 2015. Die "über Nacht im Alleingang getroffene" Grenzöffnung sei "keine besonders überlegte europäische Politik gewesen" und hätte "eine einmalige Ausnahme bleiben sollen".

Eine Anfrage der Berliner Zeitung wurde wie folgt beantwortet: "Der Parteivorsitzende und Bundeskanzler möchte sich dazu im Moment nicht weiter äußern."

Thomas Hitzlsperger (Ex-Fußballer)

Thomas Hitzlsperger

Macht sich immer wieder dafür stark, dass Flüchtlinge menschenwürdig aufgenommen und bei der Integration in die deutsche Gesellschaft unterstützt werden. Er engagiert sich vielfach gegen Diskriminierung zum Beispiel Homosexueller. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar outete er sich als scharfer Kritiker der Großveranstaltung in diesem Gastgeberland.

Die Berliner Zeitung erhielt auf ihre Anfrage keine Antwort.

Marcel Fratzscher (Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung)

Marcel Fratzscher
© Annette Riedl/dpa

2015 sah er die Flüchtlingskrise vor allem als wirtschaftliche Chance und sagte unter anderem: "Flüchtlinge werden Renten der Babyboomer zahlen" und "Ein Flüchtling erwirtschaftet spätestens nach sieben Jahren mehr, als er den Staat kostet."

Seine damaligen Äußerungen wollte Marcel Fratzscher nicht kommentieren. Eine Anfrage der Berliner Zeitung ließ er unbeantwortet.

Campino (Sänger der Band Die Toten Hosen)

Campino

Engagierte sich gegen Rassismus und trat bei "#wirsindmehr"-Konzerten auf. Er sagte damals: "Alle reden bei uns in Deutschland immer davon, dass wir die Dummen sind, die alle aufnehmen müssen. Aber man muss das mal in Relation zu unserem Wohlstand und unserer Größe setzen, dann sieht das alles schon ganz anders aus."

Ein aktuelles Statement gab es nicht, er sei zu sehr eingespannt, hieß es aus dem Management.

Diese Personen hat die Berliner Zeitung ebenfalls wegen ihrer früheren Zitate und Aktivitäten zum Thema Migration angeschrieben, keine von ihnen hat geantwortet: Winfried Kretschmann, Til Schweiger, Sibel Kekilli, Peter Maffay, Horst Seehofer, Fatih Akin, Sahra Wagenknecht, Lukas Podolski, Joachim Gauck, Jan Josef Liefers, Jens Spahn.


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